[bits] Begegnungen mit niedrigem Risiko

Hallo,

seit fast vier Monaten nutze ich die Corona-Warn-App und schaue regelmäßig immer nach, ob etwas Neues passiert. Am Wochenende stand da auf einmal „3 Risiko-Begegnungen mit niedrigem Risiko“ auf dem Bildschirm. Freund:innen berichteten zur selben Zeit von ähnlichen Meldungen, nur die Zahlen variierten. Wie konnte das sein? Ich sitze im Home-Office, treffe fremde Menschen meist nur beim Einkaufen mit Maske und halte mich sonst in der Regel an der freien Luft auf. Von meinen Freund:innen berichtete niemand über einen positiven Test. War das schon die „Zweite Welle“ oder diverse Reiserückkehrer:innen beim Shoppen, obwohl die täglichen Neu-Infektionszahlen in Berlin immer noch zweistellig sind? Oder funktionierte die App vorher nicht und ein Update hatte erst bei allen die Funktionsweise heimlich eingeschaltet?

Und was ist überhaupt eine „Risikobegegnung mit niedrigem Risiko“? Letzteres kann ich mir vage mit meinem in den vergangenen Monaten erworbenen Laien-Wissen über Epidemiologie vorstellen, fand aber keine weiterführenden Informationen in der App, um das Anderen zu erklären. Heute gibt es dann eine mögliche Erklärung, warum wir alle zur selben Zeit diese Warnung hatten. Die App-Macher:innen bei SAP und Deutsche Telekom schieben die Schuld auf Apple, das im letzten iOS-Update Fehler eingebaut hätte:

„Unter der am 01.09. von Apple veröffentlichten neuen iOS-Version kann es bei einer geringen Zahl von Nutzer*innen zu irreführenden Risiko-Berechnungen kommen. In der App wird einigen Nutzer*innen unter Umständen ein höheres Risiko angezeigt als sie tatsächlich hatten.“

Ob das jetzt der Grund für die auftauchenden Meldungen ist, eher eine bessere Hintergrundaktualisierung oder tatsächlich gestiegene Nutzer- und Fallzahlen, kann auch niemand sagen. Und würde ich jetzt nicht gerade Tech-News lesen, wäre die Info bei mir wahrscheinlich nicht angekommen und ich würde mich noch wundern und fragen. Vertrauen wird so leider nicht geschaffen. Hier ist noch Luft nach oben. Und wir sollten weiterhin vorsichtig sein.

Neues auf netzpolitik.org:

Die Landesregierung in Schleswig-Holstein will der Polizei neue Befugnisse verleihen, darunter die elektronische Fußfessel und die Schleierfahndung. Die Abgeordneten rühmen sich in einer Aussprache im Plenum damit, dass es noch „keine Massendemonstrationen wie in München“ gab, wo im Mai 2018 Tausende Menschen auf die Straße gegangen sind, um massive Verschärfungen im bayerischen Polizeigesetz zu verhindern.

Dabei gibt es eine entscheidende Gemeinsamkeit. Auch in Schleswig-Holstein soll es in Zukunft genügen, dass eine Person als vermeintlicher „terroristischer Gefährder“ gilt, um tiefgreifende Werkzeuge, wie das heimliche Abhören von Telefongesprächen gegen sie einzusetzen. Zudem könnten Polizist:innen einer Person den Zutritt zu einem bestimmten Stadtteil oder öffentlichen Ort unendlich lange verbieten, die bisherige Höchstdauer soll aufgehoben werden. Das Problem: Gegen den vagen Vorwurf, zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft eine terroristische Straftat zu planen, kann sich die Betroffene wohl kaum wehren.

Wir wurden vom schleswig-holsteinischen Parlament eingeladen, dazu Stellung zu nehmen. Unsere Redakteurin Marie Bröckling hat in unserem Namen eine Stellungnahme geschrieben und geschickt (PDF). Ein Termin für die Anhörung der Sachverständigen ist noch nicht bekannt.

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Lennart Mühlenmeier hat sich angeschaut: „Zu diesen Bedingungen telefonieren Gefangene“.

In fast allen deutschen Justizvollzugsanstalten stellt die Firma Telio die Technik für die Gefängnis-Kommunikation. Wie viel das für Gefangene kostet und was es beinhaltet, war bislang nicht bekannt. Wir veröffentlichen die Leistungsbeschreibung aus dem Vertrag mit Mecklenburg-Vorpommern. Die Kosten für die Wartung der Technik? Übernehmen die Gefangenen.

Andre Meister berichtet von einem Ruf nach der Vorratsdatenspeicherung aus Mecklenburg-Vorpommern:

Die Bundesregierung soll die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen, obwohl sie verfassungswidrig und ausgesetzt ist. Das fordert Mecklenburg-Vorpommern im Bundesrat. Geht es nach Ministerpräsidentin Schwesig, soll die anlasslose Massenspeicherung so weit gehen wie rechtlich möglich.

Und Charlotte Pekel schreibt über den Klimafußabdruck von Videostreaming:

Eine neue Studie im Auftrag des Umweltbundesamt liefert konkrete Messwerte zu den CO2-Emissionen durch Videostreaming und andere Cloud-Dienste. Verbraucher:innen können demnach das Klima schützen, indem sie Videos in geringer Auflösung und im WLAN statt mobil streamen.

Kurze Pausenmusik:

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Was sonst noch passierte:

Eine Art Github für offene Verwaltungssoftware fordert ein Zusammenschluss aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, Verwaltungen und Open-Source-Lobbyisten. Die Idee dahinter ist alt, passiert ist immer noch nichts. Aber da „Digitale Souveränität“ mittlerweile von den meisten Politiker:innen ohne Probleme ausgesprochen werden kann, sollte das auch mal mit Inhalt gefüllt werden. Das Positionspapier „Ein Ort für öffentlichen Code“ (PDF) macht genau das und beschreibt Vor- und Nachteile, sowie konkrete Umsetzungsszenarien, um sich aus der Abhängigkeit von einzelnen Monopolisten wie Microsoft zu entziehen.

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Die Große Koalition hatte für diese Legislaturperiode eine “umfassende Open Educational Resources-Strategie” versprochen, um besser offene Bildungsmaterialien zu fördern, zu verbreiten und einzusetzen. Nächstes Jahr wird wieder gewählt und das Bündnis Freie Bildung einen „Vorschlag für eine Strategie zur Stärkung und Förderung von Offener Bildung“ (PDF) vorgelegt. Darin wird vor allem ein offener Beteiligungsprozess gefordert, der die Vielfalt an Akteur:innen der Bildungslandschaft mit einbeziehen sollte.

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Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof hat sein Plädoyer im sogenannten „Framing-Streit“ um die Deutsche Digitale Bibliothek abgegeben. In den meisten Fällen richtet sich der EuGH nach den Empfehlungen des Generalanwaltes, Ausnahmen bestätigen die Regel. Wie in allen Urheberrechtsdebatten ist es etwas kompliziert. Heise-Online erklärt es: Bildeinbetten per Framing ist erlaubt, Hotlinking nicht.

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Es gibt viele Perspektiven auf den Verschwörungskult QAnon. Eine weitere bringt der Genozid-Forscher Gregory Stanton bei JustSecurity: QAnon is a Nazi Cult, Rebranded. Er vergleicht QAnon mit den antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ und sieht historisch viele Parallelen.

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Der freie Journalist Torsten Kleinz beobachtet seit Jahren wie kaum jemand anderes die Werbe-Tracking-Industrie. Für iRights.info schreibt er jetzt über die Debatte und führt anschaulich in die Auseinandersetzungen ein: Der Kampf um die Cookies: Teil 1 – Einblick in die Tracking-Industrie.

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Bei Spiegel.de wird die Arbeit von Untersuchungsausschüssen im Deutschen Bundestag gut erklärt und eingeordnet: Die Skandal-Ausschüsse.

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Das NDR-Medienmagazin hat am Mittwoch über die zunehmende Polarisierung des öffentlichen Diskurses in einer Sondersendung berichtet: Streitkultur zwischen den Extremen. Dazu wurde ich für einen Beitrag über die Verantwortung der Plattformen als Experte interviewt.

Das Interview war Corona-bedingt draußen aufgezeichnet und es gab in der Durchführung einige Herausforderungen, auch weil das Kamerateam einen Platz neben einem Spielplatz gefunden hatte. Der Aufbau und die Ausrichtung des Lichts und der Kameras dauert immer eine Zeit. Als es endlich fertig war, kam eine Kehrmaschine angefahren und schaffte es dann zuverlässig, mehrfach alle paar Minuten wieder um die Ecke zu biegen. Dazwischen kreischten Kinder. Das Interview zog sich in die Länge, dafür waren danach alle Freiflächen ordentlich gekehrt. Ich freue mich wieder auf die Zeit, wenn Interviews in einem Büro aufgezeichnet werden können.

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Warum ist Cannabis bei uns eigentlich immer noch illegal, obwohl selbst die halbe USA mittlerweile legal Hanfprodukte kaufen kann? Das hat vor allem ideologische Gründe und Bundesdrogenbeauftragte wird man bei uns immer nur dann, wenn man garantiert keine Ambitionen in Richtung einer Veränderung hat. Der Hanfverband hat viele Fakten rund um Cannabis auf einer eigenen Seite gebündelt. Dort erfährt man u.a., dass Cannabis im Gegensatz zu Kartoffeln die echte deutsche Kulturpflanze ist.

Audio des Tages: Redaktionsschluss

Ich höre gerne das wochentägliche Medienmagazin @mediasres im Deutschlandfunk, das immer am Nachmittag interessante Beiträge auch als Podcast sendet. Jetzt gibt es von der Redaktion mit „Nach Redaktionsschluss“ einen neuen Ableger. Einmal die Woche sollen Medien-Debatten als Podcast vertieft werden. In der ersten Ausgabe diskutieren die beiden Moderator:innen Stefan Fries und Bettina Schmieding mit ihrer Hörerin Sophia Hilger und der ARD-„Panorama“-Moderatorin Anja Reschke über „Haltungsjournalismus: Wie neutral müssen Medien sein?

Videos des Tages: Staatsgeheimnisse im Weltraum

Die Arte-Dokumentation „Cosmic Trip – Pop und Weltraum“ beleuchtet, wie sich in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Musiker:innen künstlerisch mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Da geht es von Sun Ra über Pink Floyd, Jean Michel Jarre und David Bowie bis zu Daft Punkt. Spannend.

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An der US-Westküste brennt es an sehr vielen Orten. In den vergangenen Tagen gab es viele verstörende Bilder aus San Francisco und Umgebung, wo der Himmel komplett rot und orange ist. Ein Video hat jetzt Drohnen-Aufnahmen mit der Filmmusik von Blade Runner 2049 unterlegt und das passt perfekt.

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Auf Netflix gibt es jetzt den Polit-Thriller „Official Secrets“ zu sehen, der im vergangenen Jahr in Kinos lieft. Der Film erzählt die Geschichte der GCHQ-Analystin Katharine Gun, die im Vorfeld der Irak-Invasion 2003 ein NSA-Memo geleakt hatte. In dem war die Strategie beschrieben, dass die USA und Großbritannien Mitglieder des UN-Sicherheitsrates überwachen sollten, um in dem Gremium eine Entscheidung in Richtung Krieg zu schaffen. Die Hauptrolle spielt Keira Knightley.

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Aus dem Alltag eines US-Präsidenten: Donald Trump zählt bei einer Pressekonferenz auf, welche Fox-Sendungen er am Vortag alles gesehen haben will.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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