[bits] Die Bestandsdatenauskunft ist verfassungswidrig

Hallo,

Die Bestandsdatenauskunft ist ein Dauerbrenner in der netzpolitischen Debatte. Wem gehört eine Telefonnummer? Wem ist eine IP-Adresse zugeordnet (gewesen)? Das können über 100 staatliche Stellen von Telekommunikations-Anbietern erfahren, ohne dass die Firmen oder Kunden davon etwas mitbekommen. Dieses automatisierte Auskunftsverfahren wird von der Bundesnetzagentur betrieben und ist auch als „Behördentelefonbuch“ oder Bestandsdatenauskunft bekannt.

Einmal im Jahr analysieren wir den Jahresbericht nach den aktuellen Zahlen: Staatliche Stellen haben 2009 fast 16 Millionen Mal abgefragt, wem eine Telefonnummer gehört. Diese automatisierte Bestandsdatenauskunft ist in drei Jahren um mehr als die Hälfte gestiegen. Auch Internet-Daten werden übermittelt, darüber gibt es jedoch weiterhin keine Transparenz.

Gegen die Praxis wurde 2013 Verfassungsbeschwerde eingelegt. Heute hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil vorgelegt: Die Bestandsdatenauskunft ist in der vorliegenden Form verfassungswidrig. Der staatliche Zugriff auf Bestandsdaten muss begrenzt werden. Der Gesetzgeber hat jetzt bis Ende 2021 Zeit, eine neue Regelung auf den Weg zu bringen.

Das ist bereits das zweite Urteil in dieser Woche, das eine offensichtlich illegale Praxis für offiziell illegal erklärte. Gestern urteilte der Europäische Gerichtshof über das US-EU-Datenabkommen Privacy Shield. Beide Debatten haben eine lange netzpolitische Geschichte. Und auch hier zeigt sich, wie wichtig es ist, an einem Thema mit langem Atem dran zu bleiben. Vor allem, wenn, wie hier in beiden Fällen schon bei der Verabschiedung klar ist, dass das einfach nicht verfassungskonform sein kann.

Jana Ballweber hat die Details: Bundesverfassungsgericht kippt Regelungen zur Bestandsdatenauskunft.

Jetzt gilt es wachsam zu bleiben, dass eine Neuregelung nicht schon wieder dazu führt, dass dagegen langwierig geklagt werden muss.

Neues auf netzpolitik.org:

Viele Frauen erhalten leider viel zu häufig Bilder von Geschlechtsteilen, sogenannte Dickpics, ungefragt zugeschickt. Ohne Einwilligung und Konsens ist das illegal, viele Betroffene scheuen sich aber den Aufwand, eine Strafanzeige zu stellen. Die Plattform Dickstinction möchte das ändern. Dort kann man rasch und einfach alle notwendigen Informationen einstellen und daraus wird dann automatisiert eine Strafanzeige gemacht, die man bequem an die passende Dienststelle weiterreichen kann. Chris Köver hat den Überblick zur Motivation und Durchführung: Anzeige in fünf Minuten.

Viele Frauen erhalten im Netz Penis-Bilder – ungewollt und meist von Fremden. Mit Erotik hat das wenig zu tun und eine Straftat ist es auch. Trotzdem erstatten die Betroffenen kaum Anzeige. Eine Legal-Tech-Seite versucht, das Feld in diesem Machtkampf zu ebnen.

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Matthias Monroy berichtet über die deutschen Pläne im Rahmen des EU-Ratsvorsitz: Bundesregierung für „Europäische Polizeipartnerschaft“.

Das deutsche Bundesinnenministerium will in seiner EU-Präsidentschaft Europol und den internationalen Datentausch ausbauen. Europäische Polizeibehörden werden mit Gesichtserkennung und Fähigkeiten zur Entschlüsselung unterstützt. Auf der Agenda stehen außerdem die europaweite Abfrage von Polizeiakten und der Austausch über eine Definition von „Gefährdern“.

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Das Portal de.indymedia.org wurde im vergangenen Verfassungsschutzbericht als Verdachtsfall genannt. Markus Reuter hat sich angeschaut, wie das begründet wird: Wie ein Urteil zur Jungen Freiheit Indymedia helfen könnte.

Der Verfassungsschutz nennt das Portal de.indymedia.org in seinem jüngsten Bericht einen Verdachtsfall. Ausgerechnet ein Urteil, das eine rechte Zeitung erstritten hat, könnte jetzt dem linken Portal helfen. Es hebt hervor, dass der Verfassungsschutz wegen einzelner verfassungsfeindlicher Artikel nicht dem ganzen Medium einen Strick drehen darf.

Wissenswertes zur Coronakrise:

RBB Kontraste berichtet über Corona-Langzeitfolgen: Genesen heißt nicht geheilt. Viele Menschen berichten von bleibenden Spätfolgen und es ist immer noch unklar, ob die bleiben oder weggehen. Neben den bereits bekannten Lungenschäden kommen häufig Probleme im zentralen Nervensystem und Nierenschäden dazu.

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Die ZDF-Dokumentation „Der unsichtbare Feind“ von Frontal21 blickt auf die vergangenen Monate zurück, zeigt Schwächen in unserem Gesundheitssystem und stellt die Frage, ob wir für die kommenden Monate ausreichend vorbereitet sind.

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Maske oder Essen? Das Text-Adventure „Survive Covid“ stellt als Serious-Game Spieler:innen viele Fragen und versetzt sie damit in das Leben einer indischen Slum-Bewohnerin in Zeiten der Corona-Pandemie. Die Antworten haben Auswirkungen auf das Risiko, an Covid-10 zu erkranken oder kein Geld mehr für Essen zu haben.

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Die New York Times geht der Frage nach, warum Thailand bisher so gut durch die Krise gekommen ist. Es gibt kaum Infizierte und Tote. Es gibt viele mögliche Parameter, Social Distancing ist kulturell eher verankert und Maskentragen ist als effektiver Schutz auch anerkannt und wird umgesetzt: No one knows what Thailand is doing right, but so far, it’s working.

Was sonst noch passierte:

Mit der „Verordnung zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten“ verschärft die EU die Regeln für App-Stores, die immer mehr zu mächtigen Nadelöhren für den Zugang zu unseren digitalen Geräten aufgestiegen sind: EU verlangt mehr Transparenz in App Store & Co..

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Bereits 2017 haben Polizist:innen in Hessen unrechtmäßig Meldedaten abgefragt. Es soll der Verdacht des Sympathisierens mit Reichsbürgern gegeben haben, wie tagesschau.de berichtet: Bereits 2017 illegale Datenabfragen. Es war also ausreichend Zeit, technische Sicherungsmaßnahmen gegen unrechtmäßiges Abfragen zu treffen. In den vergangenen Wochen haben verschiedene linke Politikerinnen und eine Kabarettistin Drohschreiben eines „NSU 2.0“ gegeben, die an private Adressen verschickt wurden, die wiederum (zumindest teilweise) von hessischen Polizeicomputern abgerufen wurden.

Gestern Abend wurde vermeldet, dass ebenfalls die ZDF-Moderatorin Maybrit Illner eine Drohmail bekommen haben soll, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet sein soll. Das wurde von vielen Medien direkt neben der Sache einsortiert, aber es gab keine Anhaltspunkte, dass das ebenfalls an eine private Meldeadresse von Illner geschickt wurde. Mir scheint das eher ein Trittbrettfahrer zu sein, denn bei den Formulierungen habe ich Fragen: „Der anonyme Verfasser wirft Illner vor, sich für die „Abschaffung der Scheißdeutschen, die Vernichtung der Kartoffelkultur und für den Bevölkerungsaustausch“ zu engagieren.“

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Spannende Reportage über ein Unternehmen, das an strategisch gut gelegenen Punkten in der Berlin Küchen betreibt, die nur für Lieferservices kochen und dabei mehrere Restaurant-Marken unter ihrem Dach vereinen. Und wenn es mal nicht läuft mit einem digitalen Restaurant, dann wird es per Klick deaktiviert und einfach ein neues aufgemacht: Ghost Kitchen: In diesem Restaurant soll man nicht essen

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Einem Fan der chinesischen Serie „The Bad Kids“ war aufgefallen, dass die Lippenbewegungen der Darsteller nicht zum gesprochenen Text passen. Ihm gelang es durch Methoden Künstlicher Intelligenz, teilweise zu rekonstruieren, was ursprünglich vor der Zensur gesagt wurde. Dafür nutzte Eury Chen unter anderem Googles Facemesh.

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Ein Außenblick ist manchmal hilfreich. Der britische Guardian berichtet über die Kampagne der Bild-Zeitung gegen Angela Merkel. Das ist lesenswert, weil es auch viel um den Axel-Springer-Verlag und sein Verhättnis zur Macht geht: Bild, Merkel and the culture wars: the inside story of Germany’s biggest tabloid.

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Rezo hat mit Nindo eine technische Plattform gelauncht, die im weitesten Sinne Influencer auf den großen Plattformen in ihren Interaktionen und Nutzer:innen-Feedbacks vergleicht. Auf der Plattform kann man all die Internet-Stars und Sternchen sehen, von denen man noch nie gehört hat und die teilweise eine größere Reichweite haben als die TV-Sendungen, die wir vielleicht noch schauen. Allerdings ist das auch teilweise etwas erschreckend. Aber wahrscheinlich auch nicht schlimmer als sich Nachmittags durchs Privatfernsehen zu zappen.

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Diese Woche gab es häufig Bilder von Trump und seiner Tochter Ivanka zu sehen, die Bohnendosen einer bestimmten Marke in Kameras hielten. Ich ging davon aus, dass es sich hierbei um Fakes handeln müsste, aber die Debatte um #Goya hörte nicht auf. Jetzt weiß ich, dass das real ist: Es gibt einen Bohnen-Produzenten, der bei einer Veranstaltung die Arbeit von Donald Trump gelobt hat. Deswegen riefen wohl viele Menschen in sozialen Medien zu einem Boykott der Marke auf. Trump und Familie verteidigten ihn, indem sie auf offiziellen Regierungskanälen und aus dem Weißen Haus heraus Werbung für die Bohnen machten. Es geht also immer noch absurder unter Donald Trump: ‘In the middle of a pandemic, they’re selling beans’: Chris Cuomo blasts Trump for hawking Goya.

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Über die größte Unterstützerbasis der Familie Trump außerhalb von Bohnen-Produzenten berichtet der Deutschlandfunk. Evangelikale in den USA halten Trump für den „Gesalbten Gottes“. Er selbst sich sicher auch, aber alleine ist seine Stimme nicht viel wert. Aber die Evangelikalen verfügen über eine sehr große und motivierte Wählerbasis.

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Vor vielen Internet-Jahren gab es mit soup.io mal ein Soziales Netzwerk aus Österreich. Ich hab damit auch mal eine zeitlang rumgespielt, aber das Projekt fand letztendlich nicht genug Investoren, um langfristig eine Alternative zu den damals wachsenden US-Plattformen zu werden. Jetzt wird soup.io abgeschaltet und hier gibt es einen Rückblick auf österreichische Netzkultur der späten Nuller-Jahre.

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Der Spiegel portraitiert den Job eines Brettspielerklärer. Und das klingt etwas wie ein Traumjob, aber das Gehalt muss man sich leisten können: „Aufsteigen? Will ich gar nicht“.

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Robert Thielicke ist Chefredakteur von „Technology Review“ und vergleicht in einem Kommentar die Stimmung unserer Gesellschaft mit der in den USA. Ihm fällt auf, dass früher die USA immer als positiver zukunftsgewandt wahrgenommen wurden. Und sich das komplett gedreht hätte. Während sich in den USA die Reichen aus Angst Bunker kaufen und die Armen aus ähnlichen Gründen häufig von einer Mauer zu Mexiko träumen, schauen bei uns große Teile eher positiv in die Zukunft: Amerika hat sich disruptiert.

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Der Radiosender FM4 aus Österreich hat mit Musikmaschinen einen neuen Podcast über „Technologien, die die Popgeschichte verändert haben“. Einer der beiden Hosts ist der Musikproduzent Patrick Pulsinger und die erste Sendung geht über die legendäre Rhythmusmaschine Roland TR-808: Ohne die TR-808 gäbe es weder Electro noch „Sexual Healing“. Sehr interessant, ich bin auf die kommenden Ausgaben gespannt.

Videos des Tages: Content-Moderator:innen, Loveparade und Anstalt

Über die Arbeit von Content-Moderator:innen berichtet das Y-Kollektiv: Sie löschen die Videos auf Social Media, die Du nicht sehen sollst. Ausführlicher auf das Thema geht der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm „The Cleaners“ ein, der philippinische Content-Moderator:innen portraitiert. Den Film gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen.

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In der ARD-Mediathek gibt es die Dokumentation „Loveparade – Als die Liebe tanzen lernte„. Eigentlich dachte ich, das Thema wäre in diversen Dokumentation auserzählt. Aber diese Variante fand ich trotzdem sehr spannend, auch wenn die üblichen Verdächtigen in der Oral-History-Erzählung auf die Entstehung und Entwicklung der Loveparade zurückblicken.

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Das letzte Kapitel zum Thema gibts nebenan: Etwas weniger gute Stimmung vermittelt die Arte-Dokumentation „Loveparade – Die Verhandlung„. Diese dokumentiert chronologisch den Prozess zur juristischen Aufarbeitung der Duisburger Katastrophe.

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Die Politsatire „Die Anstalt“ behandelt in der aktuellen Ausgabe die Debatte um Rasismus und Post-Kolonialismus.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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