[bits] Die Spirale der Radikalisierung?

Hallo,

in Halle beginnt heute der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter Stephan B., der am höchsten jüdischen Feiertag im Oktober 2019 versuchte, in die Synagoge von Halle einzudringen und nach gescheitertem Versuch zwei Passant:innen erschoss.

Das Attentat berührt viele netzpolitische Fragestellungen, da sich der mutmaßliche Täter offensichtlich im Internet radikalisiert hat, sein Attentatsversuch per Livestream sendete und sich generell am früheren Christchurch-Attentat orientierte. Eine Folge des Attentats war die Verschärfung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes.

Die SZ-Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger beschreibt, worum es geht. Und vor allem lobt sie die Richterin in Magdeburg dafür, dass sie Tonaufnahmen zulässt: Ein Stück Rechtsgeschichte. Das erspart Prozessbeobachter:innen viel Tipparbeit und eigentlich ist es ein Skandal, dass das bei zeitgeschichtlich wichtigen Prozessen immer noch die Ausnahme und nicht die Regel ist.

Der Hintergrund im Deutschlandfunk gab gestern kompakt in 20 Minuten einen Rückblick auf das Attentat und die Folgen: Protokoll eines Anschlags.
Währenddessen gibt es Diskussionen um den Koch Attila Hildmann, der seit Beginn der Coronakrise regelmäßig eine skurrile Ansammlung von Menschen zusammenbringt, die alle zuviel Youtube geschaut und sich auf Telegram verlaufen haben.

Ich stand vor zwei Wochen zufällig Samstags in Berlin im Stau, weil ein Auto-Korso als angemeldete Demonstration vorbei fuhr. Das war verstörend und urkomisch zugleich, wie die teilnehmenden Autos mit ihren USA und Russland-Fahnen und Gates- und Impf-Slogans von der Polizei geschützt hupend durch Mitte fuhren, um sich irgendwo zu sammeln. Am vergangenen Samstag wiederholte Attila Hildmann seine Phantasievorstellung, dass er als Reichskanzler den ehemaligen grünen Politiker Volker Beck töten würde. Dabei verwendete er rhetorische Mittel, damit die Aussage und implizierte Aufforderung bei seinen Zuschauenden ankommt, aber er dafür rechtlich nicht haftbar gemacht werden kann.

ZDF heute berichtet über die Drohungen und hat mit Volker Beck sowie der Wissenschaftlerin Pia Lamberty gesprochen, die für ihre Forschung über Verschwörungsmythen von Hildmann und seinen Anhänger:innen bedroht wird: Ermittlung gegen Attila Hildmann eingeleitet.

Der Deutschlandfunk hat zu der Problematik den Medienrechtler Wolfgang Schulz vom Leibniz-Instituts für Medienforschung (Hans-Bredow-Institut) interviewt. Er weißt zurecht darauf hin, dass eine offene Gesellschaft so etwas leider aushalten muss. Aber es trotzdem nicht hinnehmen muss, dass auf diese Weise gehetzt wird: „Man muss sich empören“.

Aber genau hier ist wieder die Herausforderung: Wie geht man mit Menschen wie Attila Hildmann und seinen Anhänger:innen um, von denen ein Teil wahrscheinlich eher Therapie-Sitzungen als das Strafrecht gebrauchen könnte, um wieder mit der Welt klar zu kommen? (Video vom vergangenen Samstag.) Und schafft man ihm nicht zusätzliche Aufmerksamkeit, indem man seine immer radikaler werdenden Forderungen empört zurückweist? Führt das dann nicht zu der Spirale, dass die nächste Forderung noch krasser sein muss, damit die Aufmerksamkeit bestehen bleibt? Und sich irgendwann jemand angesprochen fühlt, wie der Attentäter von Halle und das umsetzen will? Mir fehlen da auch noch die richtigen Antworten.

Neues auf netzpolitik.org:

Seit längerem diskutiert auch Österreich über Strategien über Hass im Netz. Jetzt wurde von der aktuellen Regierung ein eigenes Gesetz angekündigt, was sich am Netzwerkdurchsetzungsgesetz orientieren, aber auch andere Akzente setzen soll. Tomas Rudl berichtet über die Debatte: Österreich kündigt eigenes Gesetz gegen Hass im Netz an.

In den kommenden Tagen will die österreichische Regierung einen Gesetzentwurf gegen Hass im Netz vorstellen. Dieser orientiert sich offenbar am deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz und soll Geldstrafen für Online-Dienste vorsehen, die Hasspostings nicht rasch löschen.

Wie schaut es mit den Finanzen von netzpolitik.org aus? Stefanie Talaska berichtet im aktuellen Transparenzbericht für den Monat Mai, wie sich unsere Spenden in der Coronakrise entwickelt haben. Und gibt etwas Einblicke, was sich für die Redaktion verändert hat: Unsere Einnahmen und Ausgaben im Mai und ein veränderter Beziehungsstatus.

Seit April ist die Bürotür meistens verschlossen, wenn der Arbeitstag beginnt. Die meisten trinken ihren morgendlichen Kaffee zuhause. Was vorher seltener Luxus war, ist nun der Regelfall: Allein im Büro zu sein. Oder auch allein daheim, aber eben nicht mehr umgeben von den Menschen, die sonst ein Drittel des Tages da waren. Die Routine ist dieselbe: Erster Kaffee, erste Zigarette.

Was sonst noch passierte:

„Event of Moon Disaster“ ist ein spannendes immersives Kunst-Projekt mit starken Digitalkompetenz-Förderkomponenten. Das Ziel ist, eine Auseinandersetzung mit sogenannten Deep-Fakes spielerisch über eine „andere Mondlandung von 1969“ als Erzählung zu schaffen. Spannendes Thema, wichtige Vermittlung und gut umgesetzt. Viel Spaß beim Ausprobieren.

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Die Coronakrise schafft neue Jobs und innovative Produkte – auf Seiten der US-Sterbeindustrie. Da gibt es auf einmal Dienstleistungen wie den „finalen Tweet“ und „Deathfluencer“: Boom Time for Death Planning.

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Der Sicherheitsexperte Bruce Schneier ordnet den Hack von Twitter in der vergangenen Woche ein. Einige dutzend prominente Accounts kommunizierten auf einmal Bitcoin-Scam.

Dabei kamen nur eine kleine sechsstellige Dollarzahl in Bitcoins zusammen, was sich eigentlich nicht lohnt – vor allem, wenn man direkten Zugriff auf ein ganzes Kommunikationsmedium hat. Mittlerweile ist bekannt, dass Kryptowährungsbörsen eine Art Spamfilter für die kommunizierte Bitcoin-Adresse eingesetzt und damit verhindert haben, dass noch mehr Geld transferiert wurde. Schneier bringt aber auch die Möglichkeit ins Spiel, dass die Bitcoin-Sache eine Ablenkung war und ein Geheimdienst oder Geheimdienst-naher Akteur es auf andere Infos wie z.B. die Inhalte von Direktnachrichten abgesehen hatte.

Aber vor allem spricht Schneier grundlegende Probleme an: Unternehmen wie Twitter und Facebook sind zu mächtig und zu wenig reguliert. Sie müssten zerschlagen werden. Und vor allem müssten sie so reguliert werden, dass sie nicht so leicht gehackt werden können, sondern mehr Geld für IT-Sicherheit ausgeben müssen, wie z.B. im Banken-Sektor. Der Hack war echt peinlich für Twitter, weil er offenbarte, wie wenig trotz der großen gesellschaftlichen Verantwortung auf Sicherheit geachtet hat.

Interessanter Aspekt in dem Artikel, der mir noch nicht bekannt war: Donald Trump hat einen extra abgesicherten Präsidentenaccount und war deswegen von dem Hack nicht betroffen: Trump’s Twitter account has extra protections, which could be why it didn’t get hacked.

Bei den Krautreportern erklärt Rico Grimm „Die völlig verrückte Börsenrallye des Corona-Jahres 2020„. Gut erklärt, warum die Börsten weiter steigen, während wir uns in der größten Wirtschaftskrise seit Ewigkeiten befinden.

Video des Tages: Magical Mystery Tour

Gestern hatte ich für heute etwas fröhlicheren Inhalt in der Video des Tages – Aktion versprochen. Das war recht einfach, denn in der Arte-Mediathek gibt es aktuell „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“ zu sehen. Das ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Sven Regener und es geht im um einen Techno-Roadmovie in der verpeilten Zeit der 90er Jahre mit Charlie Hübner in der Hauptrolle. Gutes Buch und guter Film.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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