Hallo,
mein Urlaub ist leider vorbei und das Sommerloch schließt sich langsam. In einigen Bundesländern sind auch die Schulferien vorüber und viele Lehrer:innen und Eltern bangen seitdem, dass das mit dem Unterricht möglichst lange klappt. Richtig Hoffnung darauf hat bei steigenden Infektionszahlen allerdings kaum jemand. Die Erinnerungen an den Zustand von vor wenigen Monaten sind noch zu aktuell: Alle Schüler:innen wurden in den Heimunterricht geschickt und allen Beteiligten wurde spätestens dann bewusst, dass wir seit 20 Jahren die Digitalisierung des Bildungswesen verschlafen haben.
Jetzt soll alles ganz schnell gehen und Hoffnung wird verbreitet. Am vergangenen Donnerstag trafen sich Spitzen der CDU, SPD und einige Kulturminister im Kanzleramt, um ein weiteres Maßnahmenpaket für Schulen zu vereinbaren. Davon gab es bereits einige, aber zwischenzeitlich fiel anscheinend auf, dass man Hardware für die Lehrer:innen vergessen hatte. Dafür soll es jetzt auch schnell Geld geben.
Ebenfalls wurde das Problem diskutiert, dass nicht alle Schüler:innen im Home-Schooling ausreichend Internet haben. Mir hatte eine befreundete Lehrerin zuletzt genau erklärt, wie das Home-Schooling bei ihr (nicht) funktionierte. Sie hatte u.a. damit zu kämpfen, dass ein Teil ihrer Schüler:innen zuhause nur ihre alten Smartphones und kaum Guthaben hatten, so dass diese nicht einmal verschickte PDFs runterladen konnten. Für Kinder aus sozial schwachen Haushalten soll es jetzt zehn Euro für ein Mobilfunkpaket geben.
Jetzt bleibt nur noch die große Frage, was kommt zuerst: ein funktionierender flächendeckender Impfstoff, der das Corona-Problem löst oder die Digitalisierung des Bildungssystems, damit sich das Frühjahrs-Desaster nicht wiederholt. Ich wette auf das erstere.
Währenddessen gehen in Großbritannien massenhaft Schüler:innen auf die Straße und skandieren „Fuck the algorithms“. Der Hintergrund ist, dass dort in den vergangenen Monaten auch kein geregelter Schulalltag möglich war und es keine Abschlussprüfungen gab. Zuerst sollten Lehrer:innen Noten festlegen, aber die fielen der Regierung zu gut aus und lagen über dem Notendurchschnitt der letzten Jahre.
In Berlin hatten wir die Regelung, dass es für das zweite Halbjahr im vergangenen Schuljahr keine Verschlechterungen bei den Noten geben durfte. Das dachten sich dann auch viele Lehrer:innen in Großbritannien so und vergaben bessere Noten als der Notendurchschnitt der letzten Jahre ergab. Das fand die Regierung nicht toll und dachte, dass man dieses Problem am besten mit Technik lösen könnte, was in der Regel schief geht.
Ein algorithmisches Entscheidungssystem bewertete anhand des durchschnittlichen Notendurchschnitts der jeweiligen Schulen aus den vergangenen Jahren eine Note, die bei vielen bis zu drei Notenpunkte schlechter waren als die Bewertungen der eigenen Lehrer:innen.
Seitdem heißt es eben „Fuck the algorithms“ bei den Demonstrationen und die Regierung rudert massiv herum und kommt mit der Situation nicht klar. Vielen Schüler:innen geht es genauso. Ich würde mich auch ziemlich alleine gelassen fühlen, wenn mir ein intransparentes Entscheidungssystem eine Note auswürfelt, die meine Zukunft massiv verändern kann.
Dass das eher mit Würfeln zu tun hat, zeigt ein Artikel in der Sunday Times über Zwillinge, die von dem System sehr unterschiedlich bewertet wurden.
Das Beispiel aus Großbritannien ist zwar neu, die Debatte aber schon älter. Die US-Autorin Cathy O’Neil beschrieb bereits vor Jahren in ihrem Buch „Angriff der Algorithmen“, wie in den USA algorithmische Entscheidungssysteme im Bildungssystem eingesetzt werden, dabei massenhaft Fehler produzieren und vor allem sozial Schwache benachteiligen. Daraus wurde nicht gelernt.
Hier gibt es in einem Twitter-Thread Berichte von den Demos in London. Hier gibt es eine Sample-Möglichkeit des Schlachtrufs „Fuck the algorithms“. Spiegel-Online hat eine Zusammenfassung: Britische Schüler protestieren gegen Abschluss per Algorithmus.
Neues auf netzpolitik.org:
In der vergangenen Woche hab ich zusammen mit Constanze Kurz auf die Einstellung der Ermittlungen wegen Landesverrat gegen Andre Meister und mich vor fünf Jahren erinnert. In einem Beitrag fassen wir noch einmal zusammen, was seitdem geschah und welche Fragen offen sind: Fünf Jahre #Landesverrat. Dazu haben wir uns darüber für die Ausgabe 2006 unseres Netzpolitik-Podcasts unterhalten: Ein Blick auf die Akteure der Landesverrats-Affäre.
Das kann man hier direkt anhören:
Annika Kettenburg studierte Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaften in Lüneburg, Thailand und Lund (Schweden). In ihrer Masterarbeit, auf der dieser Artikel basiert, untersuchte sie die Potentiale und Grenzen von Künstlicher Intelligenz für Nachhaltigkeit sowie die vorherrschenden Motive im politischen Diskurs um KI. Darüber schreibt sie bei uns in einem Gastbeitrag: Gemeinwohl und Nachhaltigkeit statt nur Profit.
Mit Blick auf die Diskussionen um die Agrar-, Energie- oder Verkehrswende sind die Hoffnungen auf die Künstliche Intelligenz groß. Doch sie wird nur marginale Wissens- und Effizienzzuwächse ermöglichen, nicht aber der entscheidende Faktor der Transformation sein. Maschinelles Lernen kann nur begrenzt zu Nachhaltigkeit beitragen – und das auch nur, wenn es politisch gewünscht wird.
Aus der Kategorie „Wenn man erstmal diese Daten erhebt…“ kommt folgende Meldung von Jana Ballweber: Fußballverband will Fan-Daten auch nach Corona erheben.
Der Präsident des sächsischen Fußballverbandes möchte Eintrittskarten zu Fußballspielen auch nach der Pandemie personalisieren. Während man beim sächsischen Landesdatenschutzbeauftragten und im Innenministerium die Aufregung nicht versteht, sehen Fußballfans ihre persönlichen Daten und die Fankultur in Gefahr. Von den Daten profitieren könnte unterdessen mal wieder die Polizei.
AirBnb geht gegen Prostitution auf seiner Plattform mit algorithmischen Entscheidungssystemen vor, welche Sex-Arbeiter:innen diskriminieren. Das fasst Charlotte Pekel zusammen: Airbnbs schwieriger Umgang mit Sexarbeiter:innen.
Airbnb besitzt ein Patent, mit dem sich vermeintlich die Vertrauenswürdigkeit von Nutzer:innen berechnen lässt. Immer wieder sperrt das Unternehmen Accounts von Sexarbeiter:innen, selbst wenn diese nur privat verreisen wollen. Wie die Entscheidungen zustande kommen, bleibt intransparent.
Ausgerechnet im ÖPNV funktioniert die deutsche Corona-Warn-App noch nicht so, wie sie sollte. Im Moment scheint die App dort die Ergebnisse eher zu würfeln, wie Marie Bröckling schreibt: Corona-Infektionen in Bus und Bahn bleiben womöglich unbemerkt. Das müsste sich mal schnell ändern, andere Staaten bekommen das besser hin als die Deutsche Telekom und SAP in ihrem Gemeinschaftsprojekt.
Wer im öffentlichen Nahverkehr neben einer an dem Coronavirus erkrankten Person saß, wird davon in den meisten Fällen nie erfahren. Die Tracing-App sollte Abhilfe schaffen, doch ausgerechnet in Umgebungen mit viel Metall funktioniert sie wohl nur sehr unzuverlässig.
Was sonst noch passierte:
Donald Trump erwägt die Begnadigung von Edward Snowden. Zumindest wurde er danach in einer Pressekonferenz befragt und hat eine Antwort gegeben, die im besten Fall etwas Hoffnung macht. Mit dem Medienmagazin Mediasres Deutschlandfunk hab ich darüber heute gesprochen: Technisch vorstellbar, politisch unwahrscheinlich.
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Zeit-Online hat ein Interview mit dem Risikoforscher und Soziologen Ortwin Renn gemacht, der das Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam leitet: „Gewöhnung macht leichtsinnig“. Er erklärt darin auch, was die Faktoren sind, dass sich die Stimmung bezüglich der Risiken dreht (und man vielerorts das Gefühl bekommt, die Pandemie wäre vorüber, obwohl die Zahlen gerade wieder massiv ansteigen.
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Die Technische Hochschule Mittelhessen hat die Verbreitung von Aerosolen im Büro und einen möglichen Schutz durch das Tragen von Masken untersucht. Keine Überraschung ist: Ohne Maske verbreiten sich Aerosole am stärksten. Die Kombination Maske mit Faceshield hält eine Verbreitung gut ab, aber wer möchte schon einen produktiven Büroalltag damit verbringen? Abgeraten wird von Tischventilatoren: Masken tragen im Büro?
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Das Home-Office bietet weniger Risiken, sich bei den Kolleg:innen mit Corona anzustecken. Aber dafür gibt es andere Herausforderungen, auf die Thomas Knüwer in dieser Analyse hinweist: Größter Management-Fehler 2020: Der irrige Glaube an das Home Office.
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Smartphones ohne Kabel aufladen zu können verspricht in der Theorie viele Vorteile. In der Praxis braucht man trotzdem ein Kabel, das Aufladen dauert viel länger und nicht alle angebotenen Produkte halten auch, was sie versprechen. Auf ein zusätzliches Argument gegen QI-Wireless-Ladedinger kommt von Lifehacker: The Real Reason You Shouldn’t Rely on Wireless Charging. Getestete Geräte brauchen rund 50% mehr Strom. Raketentechnologie!
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Die BW-Fuhrpark Service GmbH wurde gehackt. Das Unternehmen gehört zu 75,1 Prozent dem Verteidigungsministerium und zu 24,9 Prozent der Deutschen Bahn. Die Hauptaufgabe ist die Organisation und Durchführung von Fahrdiensten für Politiker:innen und (hohe) Beamt:innen. Allen Bundestags- und EU-Abgeordnet:innen steht dieser Service kostenlos zur Verfügung und sie lassen sich damit in der Regel in Berlin zu Terminen oder nach Hause fahren. Bisher ist der Ausmaß des Hacks unklar. Es wird aber befürchtet, dass die ganzen Fahrdaten abgezogen werden konnten: Hackerangriff auf Politiker-Fahrdienst. Das ist dann eine kleine Fahr-Vorratsdatenspeicherung. Ich bin mir sicher, dass man mit diesen Daten rausfinden könnte, wer wo wohnt, wer mit wem häufig zu tun hat und vielleicht auch, wer einen Geliebten hat.
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Der Facebook-Algorithmus mag Holocaustleugnungen. Das ist keine Überraschung, warum sollten sich diese Inhalte auch schlechter verkaufen als der sonstige verwandte Hass. Der UK-Think Tank Institute for Strategic Dialogue (ISD) hat jetzt eine Kurzstudie vorgelegt, der diese These belegen soll: Hosting the ‘Holohoax’: A Snapshot of Holocaust Denial Across Social Media (PDF). Der Guardian fasst die ISD-Studie zusammen: Facebook algorithm found to ‚actively promote‘ Holocaust denial.
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Was sind eigentlich die gängigsten Argumente gegen Elektroautos und halten diese einem Faktencheck stand? Für das taz-Magazin FuturZwei hat Peter Unfried Volker Quaschning interviewt, der als Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin forscht.
Das ist sehr erhellend. Es wird gerne behauptet, dass der Wasserverbrauch für die Gewinnung von Lithium für Autobatterien sehr hoch wäre. Quaschning setzt das in Verhältnisse und erklärt, dass der Verbrauch für eine Autobatterie vergleichbar mit der Produktion von einem Kilo Rindfleisch wäre. Insgesamt hat er Hoffnung, dass mit etwas mehr politischer und industrieller Motivation viele aktuelle Probleme schon bald gelöst sein könnten.
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Der Deutschlandfunk stellt Live – Rollenspiele vor, die mittlerweile auch immer mehr im Bildungsbereich ausprobiert werden: Gespielte Welten.
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Der Tagesspiegel portraitierte Reimund Spitzer, der seit 2002 mit dem Golden Gate einen Berliner Techno-Club betreibt, der derzeit wegen Corona geschlossen ist: „Wir sind doch sowas wie die DNA der Stadt“.
Netzpolitik-Jobs
Ich bekomme regelmäßig Job-Angebote im netzpolitischen Bereich zugeschickt und dachte mir, dass eine zusätzliche Rubrik ein guter Service sein könnte.
Der European Artificial Intelligence Fund ist ein Zusammenschluss verschiedener Stiftungen, die eine gemeinwohlorientierte Debatte um „Künstliche Intelligenz“ und algorithmische Entscheidungssysteme fördern wollen. Für die Verteilung von derzeit zwei Millionen Dollar im Jahr wird ein:e Programm-Manager:in (am liebsten in Brüssel) gesucht.
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sucht eine:n Junior Referent:in für Öffentlichkeitsarbeit (in Berlin). Erfahrungen und Spaß in der Kommunikation sollte man vor allem in Richtung sozialer Medien haben.
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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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