[bits] Gesichtserkennungs-Domino

Hallo,

nach IBM und Amazon hat jetzt auch Microsoft angekündigt, den Verkauf von Gesichtserkennungssystemen zumindest an die Polizei in den USA zu stoppen. Wenn das so weiter geht, erfahren wir heute und morgen noch von Facebook und Google, dass die ähnliches vorhaben. Und kommende Woche sind dann Palantir und Clearview dran. Aber bei Microsoft ist es auch nicht so einfach wie bereits mit der Amazon-Ankündigung: Eigentlich will man weiterverkaufen, aber lieber mit Rechtsgrundlage und fordert dafür ein Gesetz, um aus der alleinigen Verantwortung raus zu kommen.

Vor allem ist das Microsoft-Bekenntnis ein wenig überspezifisch: Während IBM ein klares Signal aus nachvollziehbaren Gründen gegen den Einsatz dieser Risikotechnologie gesendet hat, kann ich aus dem Microsoft-Statement nicht raus lesen, ob man aktuell diese Überwachungs-Dienstleistungen nur nicht an Polizeibehörden, aber an andere Sicherheitsbehörden weiterverkaufen will und ob das Statement nur US-Polizeibehörden betrifft, andere aber nicht. Markus Reuter hat die Entscheidung zusammengefasst: Microsoft unterbricht Verkauf von Gesichtserkennung an Polizei in den USA.

Trotzdem sind das interessante Zeiten. In meinem netzpolitischen Wetterbericht auf dem vergangenen Chaos Communication Congress Ende Dezember 2019 hab ich die Debatte um Gesichtserkennung als eine der zentralen Auseinandersetzungen für dieses Jahr prognostiziert. Da war von meiner Seite mehr Hoffnung als Gewissheit dabei, ich freue mich aber, dass diese Debatte jetzt geführt wird und es konkrete Entwicklungen gibt. Aber freiwillige Moratorien von Unternehmen sind nicht die Lösung, wie brauchen ein Verbot des Einsatzes dieser Risikotechnologie im öffentlichen Raum. Bei uns und in der gesamten EU.

Neues bei netzpolitik.org:

Die Funkzellenabfrage ist die kleine Schwester der Vorratsdatenspeicherung. Mit dem Instrument fragen Sicherheitsbehörden bei den Mobilfunkunternehmen an und wollen alle Daten der Mobilgeräte haben, die sich zu einer bestimmten Zeit in einer oder mehreren Funkzellen befinden – auch mit der Hoffnung, dass man dadurch irgendwelche Erkenntnisse bekommt, wer zu blöd war, bei einem Verbrechen sein Handy nicht auszuschalten. Der Nachteil davon ist, dass sämtliche Menschen, die sich gerade ebenfalls in derselben Funkzelle aufgehalten haben, weil sie da einfach wohnen, arbeiten oder durchgefahren sind, auch verdächtig werden. Und als potentiell Verdächtige möglicherweise in einer Datenbank landen. Die Rot-Rot-Grüne Landesregierung in Berlin wollte eigentlich anders mit dem umstrittenen Ermittlungsinstrument umgehen. Aber zumindest in der Anwendung hat sich bisher wenig getan, wie Daniel Laufer recherchiert hat: Es gibt „12 Funkzellenabfragen pro Woche“, das sind mehr als vor Regierungsstart.

Zum zweiten Mal in Folge ist die Zahl der Funkzellenabfragen in Berlin höher als vor dem Antritt der rot-rot-grünen Landesregierung. Dabei hatten sich an der Koalition beteiligte Parteien in ihren Wahlprogrammen äußerst kritisch zu den Grundrechtseingriffen positioniert. Die Polizei hat im vergangenen Jahr zudem deutlich häufiger auch Namen und Adressen hinter den Telefonnummern abgefragt.

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Das Internet Archive mit Sitz in San Francisco (und unter archive.org) ist die erste offiziell anerkannte Online-Bibliothek mit allen damit verbundenen Rechten, die das US-Copyright dafür zu bieten hat (Das sind mehr Rechte als unsere Bibliotheken mit unserem Urheberrecht haben). Jetzt steht die Institution vor einer neuen Klage durch Buchverlage, die man auch unter dem Stichwort Zensurheberrecht abspeichern kann. Julia Barthel hat sich das angeschaut: „Buchverlage verklagen das Internet Archive“.

Weil das Internet Archive in der Coronakrise 1,4 Millionen Bücher unbegrenzt zugänglich macht, verklagen es vier große Verlage wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht. Sollten die Verlage Recht bekommen, muss das Internet Archive mit einer Strafe von 150.000 US-Dollar pro Buch rechnen. Das könnte das Ende des Archivs bedeuten.

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Viel Transparenz hat die EU-Grenzagentur Frontex leider nicht zu bieten. Matthias Monroy hat sich angeschaut, wie die Behörde möglicherweise auch „Unter dem Radar gegen das Völkerrecht“ fliegt.

Seit drei Jahren chartert Frontex Kleinflugzeuge zur Überwachung der EU-Außengrenzen. Zuerst wurde damit Italien, anschließend auch Kroatien unterstützt. Angaben zu den Luftfahrzeugen hält Frontex geheim, die Firmen schalten im Einsatz auch die Transponder zur Positionsdarstellung ab.

Was sonst noch passiert:

Facebook hat ein privates Sicherheitsunternehmen beauftragt und bezahlt, einen sogenannten 0day-Exploit für einen bestimmten Nutzer und sein System zu entwickeln und hat diese Schwachstelle Ermittlungsbehörden gegeben, damit die gegen den Täter vorgehen können. Anders gesagt: Facebook hat einen Staatstrojaner für eine Sicherheitsbehörde gekauft. Das wirft einige ethische Fragen auf, wie Patrick Beuth bei Spiegel-Online beschreibt: Dem FBI beim Hacken geholfen.

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Das Schweizer Online-Magazin republik hat aktuelle Studien und Erkenntnisse zu geschlechtergerechter Sprache zusammengestellt: Wenn Männer über Männer reden, reden Männer Männern nach.

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In den USA hat ein Hedgefond-Manager rund 200 Lokalzeitungen aufgekauft, auch um sie zu retten und presst sie seitdem aus. Klarer Fall von blöd gelaufen: Übrig bleiben Medien, die kaum noch ihre journalistische Arbeit machen können, weil sie keine Ressourcen mehr haben. Die Washington Post konnte ihn jetzt erstmals sprechen: Heath Freeman is the hedge fund guy who says he wants to save local news. Somehow, no one’s buying it.

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Österreichs Koalition zwischen Konservativen und Grünen arbeitet an einem Informationsfreiheitsgesetz, dass die amtliche Heimlichtuerei beenden und Transparenz beim Handeln der Behörden schaffen soll. Für das Gesetz zuständig ist eigentlich die grüne Ministerin Alma Zadić, die das neue Verfassungsgesetz gemeinsam mit den Oppositionsparteien im Parlament schreiben will. Allerdings mischt sich in das Projekt nun Verfassungsministerin Karoline Edtstadler von der konservativen ÖVP ein. Edtstadler wünscht sich offenkundig kein allzu starkes Transparenzgesetz, wie sie in einem Interview deutlich macht. Dort kritisiert sie „Menschen mit einem sogenannten verdichteten Rechtsverständnis, die in sehr regelmäßigen Abständen Anfragen stellen“. Diese sollten von „querulatorischen“ Anfragen abgehalten werden. Kurzum: Die Behörden sollen eine Stopptaste bekommen. Echte Transparenz sieht anders aus, hoffentlich setzt sich Frau Edtstadler damit nicht durch.

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Sprache schafft Realitäten. Darum wird unter Programmierer:innen zunehmend darüber diskutiert, mit Unterdrückung konnotierte Begriffe wie „Master“ und „Slave“ aus der Softwaresprache zu entfernen. Solche Bestrebungen gibt es schon länger, die „Black Lives Matter“-Protestwelle in den USA hat das Thema aber nochmal etwas dringlicher auf die Agenda gesetzt.

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Der Social-Media-Konzern versucht, mit „Facebook Workplace“ etablierten Angeboten wie Slack Konkurrenz machen. Als Kund:innen hat Facebook bereits die Regierung von Singapur und Konzerne wie Walmart und Starbucks für sich gewonnen. Das Kollaborationsplattform von Facebook hat allerdings auch eher ekelhafte Features, etwa eines, dass der Führungsetage erlaubt, die Gespräche zwischen Beschäftigten zu zensieren. In einer internen Präsentation bewarb Facebook sein Workplace-Tool sogar mit der Möglichkeit, Begriffe wie „gewerkschaftliche Organisierung“ zu unterdrücken. Ein Versehen, wie der Konzern jetzt betont.

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Wie kommt es, dass viele Bürgerrechtler:innen aus der Ex-DDR früher oder später nach Rechtsaußen und noch weiter rechts abbiegen? Deutschlandfunk Kultur geht der Frage in einem längeren Feature nach: Einmal Widerstand, immer Widerstand.

Videos des Tages: Pressefreiheit und Coronaleugner

Am Montag beginnt der Prozess gegen die phillipinische Chefredakteurin Maria Ressa von rappler.com. Das Online-Medium steht wegen investigativer Recherchen zum Drogenkrieg des rechtsextremen Präsidenten Duterte im Kreuzfeuer der Regierung und Justiz. Über den Fall werde ich am Montag noch mehr berichten. Bis dahin gibt es hier die Empfehlung einer Arte-Dokumentation über den Fall: Die Unbeugsamen – Gefährdete Pressefreiheit auf den Philippinen.

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Das RBB-Politikmagazin Kontraste hat die Entwicklung der sogenannten „Hygiene-Demos“ verfolgt und daraus eine Dokumentation gemacht: Auf den Barrikaden – Was steckt hinter der Corona-Wut?

Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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