Hallo,
durch die Snowden-Enthüllungen und den anschließenden NSA-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag wurden viele Überwachungspraktiken unserer Geheimdienste aufgedeckt, die nicht von unserer Verfassung gedeckt waren.
Die Antwort der letzten Großen Koalition auf den Skandal war deutlich: Alles, was vorher illegal praktiziert wurde, wurde 2016 nachträglich mit dem BND-Gesetz legalisiert. Und es wurden noch mehr Überwachungsbefugnisse und -Maßnahmen eingeführt.
Wir haben damals schon vorhergesagt, dass das nicht verfassungskonform sein kann.
Das Bundesverfassungsgericht hat heute geurteilt, dass Grundrechte auch im Ausland gelten und unsere Behörden das selbstverständlich respektieren müssen. Das BND-Gesetz wurde in Teilen für rechtswidrig erklärt.
Es ist sehr gut, dass das Bundesverfassungsgericht deutlich erklärt hat, dass hier Grenzen zu ziehen sind. Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat, dass unsere Geheimdienste nicht einfach alles machen dürfen, was sie wollen und was die Bundesregierung gerne hätte. Weil man eben auch auf unser Grundgesetz vereidigt wurde und dessen Werte selbstverständlich verteidigen sollte.
Es ist gut, wenn das Urteil eine bessere Geheimdienstkontrolle verlangt. Im Vergleich zu anderen westlichen Staaten ist unsere Geheimdienstkontrolle eher ein Witz und extra so aufgebaut, dass sie nicht effektiv sein kann. Das muss sich jetzt endlich ändern.
Es ist schade, dass das Bundesverfassungsgericht die Praxis der anlasslosen Massenüberwachung durch die „strategische Ausland-Ausland-Telekommunikationsüberwachung“ nicht generell für verfassungswidrig erklärt hat.
Und wieder haben wir ein Überwachungsgesetz einer Großen Koalition, das vom Bundesverfassungsgericht zurecht gestutzt werden musste. Es liegen noch einige Verfahren aus der letzten Legislaturperiode in der Warteschlange, darunter die Vorratsdatenspeicherung.
Dieses Urteil ist vor allem der Verdienst der Gesellschaft für Freiheitsrechte und Reporter ohne Grenzen, die sich zur Klärung dieser Frage verbündet haben. Und deren Strategie und Argumentation vor Gericht Erfolg gehabt hat. Es zeigt sich, dass strategische Prozessführung funktionieren kann. Chapeau und gerne mehr!
Es ist zumindest auf moralischer Ebene ein globaler Präzedenzfall, wenn Deutschland aufgrund dieses Urteils einen neuen Standard beim Umgang mit Massenüberwachung im Netz setzt, setzen muss, der sich an Völkerrecht und Menschenrechten orientiert. Heute können wir alle feiern.
Wir haben viele Reaktionen in einem Artikel gesammelt: Massenüberwachung im BND-Gesetz ist verfassungswidrig.
Neues auf netzpolitik:
Leonhard Dobusch beschreibt einen Fall, wie in Österreich mit Hilfe des Urheberrechts im Sinne einer „Message Control“ versucht wurde, gegen politische Remix-Parodien vorzugehen. Der Oberste Gerichtshof in Österreich entschied jetzt im Fall eines retuschierten Bilds von Kanzler Kurz zu Gunsten der Meinungsfreiheit: Oberstes Gericht setzt Grenzen für ‚Message Control‘ durch Zensurheberrecht.
Der Europäische Gerichtshof entscheidet bald über ein Klage des Juristen Max Schrems gegen den Datentransfer zwischen EU und USA. Die Kommission sieht sich bereits nach Alternativen um, wie Alexander Fanta herausgefunden hat. Genau das haben wir vor Jahren schon prognostiziert: EU-Kommission bereitet Scheitern von Privacy Shield vor.
In den kommenden Jahren sollen die Rechte für die Nutzung frei werdender Funkfrequenzen neu vergeben werden. Auf diese Frequenzblöcke spitzen besonders Mobilfunkbetreiber. Doch die Corona-Pandemie zeigt anschaulich, dass der Rundfunk und die Kulturwirtschaft bei der Neuvergabe nicht unter die Räder kommen dürfen. Das schreiben vier Bundestagsabgeordnete in einem parteiübergreifenden Gastbeitrag: Was die Corona-Pandemie für die Frequenzpolitik bedeutet .
Bisher stellt das Robert-Koch-Institut die Zahlen zum Corona-Virus vor allem als Texte und Grafiken zur Verfügung. Das hindert Datenjournalist:innen an ihrer Arbeit. In einem gemeinsamen Brief an das Robert-Koch-Institut fordern sie tagesaktuelle und maschinenlesbare Daten. Wir veröffentlichen das Schreiben: Datenjournalist:innen fordern offene Corona-Daten. Weitere Einordnung zu der Frage bietet das ZAPP-Medienmagazin vom NDR: Medien fordern bessere Corona-Daten vom RKI.
Um die Bedürfnisse von Obdachlosen auf der Straße besser zu erfassen, entwickelt ein Software-Anbieter eine neue App. Da die Berliner Verwaltung angesichts der Krise ohnehin überfordert ist, zögern die Sozialarbeiter*innen nicht lange und wagen das Experiment. Ein Bericht über die Digitalisierung von sozialer Arbeit, von Marie Bröckling: Street Worker und Programmierer werden erfinderisch: Street Worker und Programmierer werden erfinderisch.
Wissenswertes zur Coronakrise
Mittlerweile ist die Rolle von Aerosolen bei der Verbreitung von Covid-19 mehr erforscht. Tendenziell scheint der Aufenthalt in geschlossenen Räumen die Verbreitung zu beschleunigen. Die Süddeutsche Zeitung hat eine schöne Scroll-Dokumentation gebaut, die anschaulich zeigt, „Warum Abstand halten so wichtig ist“.
Auch wenn es viele Indizien für diese These gibt fehlt immer noch der klare Beweis. Lars Fischer gibt bei Spektrum.de einen Überblick auf den Forschungsstand zu Aerosolen: Steckt das neue Coronavirus in schwebenden Tröpfchen?
In Indien gibt es eine verpflichtende Corona-Tracing-App. Darüber berichtet die MIT Technology Review: India is forcing people to use its covid app, unlike any other democracy.
Was sonst noch so passierte
Wer zuletzt aus aktuellem Anlass nach einer offenen Videokonferenz-Software gesucht hat, dürfte wohl eher früher als später über Jitsi oder Big Blue Button gestolpert sein. Für letztere Lösung hat sich die neue „Cyber4Edu“-Initiative entschieden. Gegründet auf dem vergangenen Chaos Communication Congress, haben sich die Aktivist:innen zum Ziel gesetzt, Schulen bei der Digitalisierung zu unterstützen – und seit Kurzem sind da auch Videokonferenzen nicht mehr wegzudenken. Friedhelm Greis hat mit den Aktivist:innen aus dem Umfeld des CCC, der FSFE und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen gesprochen.
Video des Tages: Digitale Verlustzone
Die ARD-Dokumentation „Digitale Verlustzone – Wie Deutschland den Anschluss verlor“ geht der Frage nach, warum wir in Deutschland in Fragen der Digitalisierung häufig den Anschluss verloren haben.
Die These ist alt, aber ich finde es gut, dass sie mal in diesem Fernseh-Dokumentations-Format untersucht wird. Die Dokumentation läuft am kommenden Montag offiziell im ARD-Nachtprogramm und steht vorab schon in der Mediathek.
Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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