[bits] Im Namen der Sicherheit massive IT-Unsicherheit schaffen

Hallo,

auch der Verfassungsschutz soll jetzt Staatstrojaner erhalten, also die Lizenz zum Hacken. Seit über einem Jahr haben sich SPD und CDU/CSU über das Gesetz zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts gestritten. Jetzt hat sich die große Koalition darauf geeinigt, keine Online-Durchsuchung, sondern „nur“ eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung zuzulassen. Das klingt harmloser als man denkt.

Der Unterschied zwischen Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ ist vor allem ein juristisch-semantischer. Bei einer Online-Durchsuchung kann man sich alles anschauen und kopieren. Bei einer Quellen-TKÜ soll es nur darum gehen, Verschlüsselungen zu umgehen und Gespräche mitlauschen zu können, deren Inhalte man dann wiederum kopiert und sich alles anschauen kann.

Aus technischer Sicht macht das aber keinen Unterschied. Für beides braucht man Staatstrojaner, um Schwachstellen auszunutzen und in ein technisches Gerät einzudringen. Wer kontrolliert denn, dass die Grenze eingehalten wird, wenn man erst mal auf dem Smartphone eines Verdächtigen ist? Kein Richter kann im Anschluss prüfen, wie der Trojanereinsatz wirklich lief. Kein Strafverteidiger kann in die Akten schauen und daran überprüfen, ob hier eine rechtsstaatliche Grenze überschritten wurde.

Wenn staatliche Behörden Schwachstellen ausnutzen, bedeutet das im Umkehrschluss, dass diese Schwachstellen bei uns allen bestehen bleiben. Und wir alle auch angreifbar sind – möglicherweise auch von kompetenteren Entitäten als unseren Verfassungsschutzämtern.

Mit anderen Worten: Im Namen der Sicherheit wird hier ein System unterstützt, mit dem massive IT-Unsicherheit geschaffen wird.

Womöglich werden auch noch dubiose Schwarzmärkte unterstützt, wo man das Wissen um Schwachstellen mit unseren Steuergeldern einkauft, um diese auszunutzen. Und wo andere Kräfte dieselben Schwachstellen einkaufen und gleichzeitig gegen uns verwenden. Es fehlen auch transparente Regeln für das sogenannte Schwachstellen-Management, also wann der Geheimdienst beispielsweise verpflichtet wäre, eine Schwachstelle zu melden, weil sie so gravierend ist, dass er sie nicht einfach stillschweigend ausnutzen darf. Weil sonst unser ganzes Internet in Flammen stehen könnte.

Und vor allem gibt es immer noch keine Zahlen, wie oft der Einsatz eines solchen Staatstrojaners überhaupt nötig wäre. Warum soll der Geheimdienst einen großen Hammer benutzen dürfen, wenn wir nicht einmal wissen, ob und wenn ja wie viele Nägel es gibt und für welche davon der sprichwörtliche Hammer denn geeignet wäre?

Vor allem reden wir hier darüber, dass das gefährliche Instrument eines Staatstrojaners einem Geheimdienst gegeben werden soll, der für viele nicht vertrauenswürdig ist. Und der nicht ausreichend demokratisch kontrolliert wird. Kann der Verfassungschutz dann auch mit dem Instrument gegen Kritiker:innen vorgehen? Wer kontrolliert das?

Ein aktuell beliebtes Narrativ, um dem Verfassungsschutz mehr Befugnisse zu geben, ist seine neue Aufgabe, auch mal was gegen Nazis zu tun. Bis heute ist ungeklärt, warum der Verfassungsschutz das offensichtliche Aufrüsten, das Agieren der Rechtsextremen Szene und die Mord-Serie des NSU nicht gesehen haben will. Um das zu sehen brauchte man keine geheimdienstlichen Fähigkeiten, offene Augen reichten aus.

Auch wenn der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nicht mehr dabei ist: Seine neue Karriere als Rechtspopulist führt nicht zu mehr Vertrauen, und bisher wurde nicht aufgearbeitet, inwiefern er auch bei der Ausübung seines früheren Amtes so agierte, wie jetzt auf Twitter, wo er den Feind immer nur links sieht und offensichtlich keine Berührungsängste mit ganz rechten Kreisen hat.

Auch wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz einen neuen Präsidenten mit einer anderen Rhetorik hat: Ein neuer Präsident macht noch keinen neuen Apparat.

Wir reden bei Staatstrojanern von Instrumenten, die sehr gefährlich in der Hand von weitgehend unkontrollierten Geheimdiensten sind. Und wo die Missbrauchsgefahr hoch ist – zu hoch, wenn man die Risiken ernsthaft betrachtet.

Neues auf netzpolitik.org:

Tomas Rudl hat Details, wie denn der Breitbandausbau jetzt endlich vorangebracht werden soll (Staffel 20 Episode 20): So soll das Recht auf schnelle Internetanschlüsse aussehen.

Mit einer umfassenden Überarbeitung des Telekommunikationsgesetzes will die Bundesregierung die Weichen stellen für einen raschen Glasfaserausbau und für ein Recht auf schnelles Internet. Wir veröffentlichen einen Referentenentwurf des Gesetzes, das langsam Gestalt annimmt.

Alexander Fanta schreibt über IT-Schwachstellen auf EU-Ebene: Corona offenbart Schwachstellen der EU.

Die Pandemie zeigt den fehlenden Schutz der internen Kommunikation der EU-Institutionen. Das schreibt der Auswärtige Dienst der EU in einem vertraulichen Bericht, den wir veröffentlichen.

Arne Semsrott kritisiert, dass die Bundesregierung offensichtlich doch nicht soviel Informationsfreiheit machen will, wie sie manchmal suggeriert: Bundesregierung will Tromsö-Konvention nicht beitreten.

Mit der Tromsö-Konvention tritt bald erstmals ein völkerrechtlicher Vertrag zu staatlicher Transparenz in Kraft. Die Bundesregierung hat kein Interesse, bei der Konvention des Europarats mitzumachen. Bisherige Regelungen dazu genügen ihr.

Markus Reuter fasst die aktuellen Entwicklungen zur Pressefreiheit in den USA zusammen: 250 dokumentierte Übergriffe der Polizei auf die Presse.

Die systematische Erfassung und Dokumentation von Polizeiübergriffen auf Journalist:innen macht das Ausmaß dieser Menschenrechtsverletzungen der letzten Tage erst sichtbar. Je nach Zählweise gab es zwischen 140 und 300 Übergriffe auf die Presse seit dem 26. Mai.

Es gab am Wochenende einen neuen Netzpolitik Podcast Folge 202 Off The Record: Schöne Grüße aus Karlsruhe!

Constanze Kurz war als technische Sachverständige bei der mündlichen Anhörung des Bundesverfassungsgerichts über das BND-Gesetz in Karlsruhe. Anna Biselli war als Berichterstatterin dort. Und unsere Praktikantin Julia war noch nie bei uns im Büro. In der neuen Ausgabe unseres Hintergrundgesprächs geht es um ihre Perspektiven.

Was sonst noch passierte:

Die Gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung thematisiert in einem neuen Arbeitsheft den „Marsch durch die Institutionen“ von rechter Seite: Bedrängte Zivilgesellschaft von rechts – Interventionsversuche und Reaktionsmuster.

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Es vergeht kaum eine Woche, wo nicht neue rechtsextreme Prepper- Chatgruppen aufgedeckt werden, in denen sich häufig Menschen aus Sicherheitsbehörden auf vermeintliche Bürgerkriege vorbereiten. Besonders die Taz macht da einen super Job. Auch dieses Wochenende präsentierte man wieder eine neue Preppergruppe mit besten Verbindungen, die sich monatelang dazu koordiniert und vorbereitet hat. Und die alle bisher unseren Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen waren: Zuflucht rechts außen.

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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum BND-Gesetz setzt die Bundesregierung und unsere Geheimdienste unter Druck, schnell mal ein neues verfassungskonformeres Gesetz auf den Weg zu bringen. Die Süddeutschen Zeitung beschreibt, was die Knackpunkte sind und wie in Teilen der Regierung gerade darüber diskutiert wird: BND-Gesetz stellt Regierung vor eine große Herausforderung.

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Wenn das Bundesverfassungsgericht ein Urteil verkündet, dann ist das in der Regel um 10 Uhr. Es gibt eine Pressemitteilung mit einer Kurzusammenfassung und ein Urteil, was vor Ort verlesen wird und was aufgrund seines Umfangs auch mal hunderte Seiten umfassen kann. Trotzdem gelingt es manchen Journalist:innen immer wieder, vor allen anderen eine Einschätzung abgeben zu können, was denn da genau entschieden wurde – und zwar bevor das Urteil fertig verlesen wurde.

Der Hintergrund sind exklusive Runden mit Journalisten am Vorabend einer Urteilsverkündung, die jetzt in der Kritik stehen: Bundesverfassungsgericht verrät vorab seine Urteile. Denn nicht alle Journalisten haben denselben Zugang und dann gibt es auch noch das Problem, dass die beteiligten Richter:innen damit auch etwas intransparent ein besonderes Framing für die öffentliche Debatte setzen können.

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Warum beleidigen sich Männer online für ihr Aussehen und was hat das mit der Incel-Szene zu tun? Max Eberle hat Nutzer und Administratoren von lookism.net angeschrieben und mit einer Berarterin für plastische Chirurgie über männliche Schönheitsideale gesprochen: Auf Lookism.net beleidigen Männer sich gegenseitig für ihr Aussehen.

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Seit kurzem versieht Twitter manche Tweets mit einem automatischen Factcheck. Offenbar reicht es beispielsweise, die Worte 5G und Corona in einen Tweet zu packen, und Twitter fügt einen Hinweis zu „Fakten rund um COVID-19“ hinzu. Lang hat es nicht gedauert, bis Nutzer damit groben Unfug anstellten.

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Mark Zuckerberg ist ein Oligarch, schreibt die Financial Times. Denn Facebook könne nur so mächtig sein, weil es sich selbst stets auf die Seite der Mächtigen schlage. Diesmal heißt das: Auf die Seite von Donald Trump. Denn im Gegensatz zu Twitter, wo das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht gleichzeitig auch ein Recht auf Viralität garantiert, publiziert Facebook die Posts des Präsidenten ohne Weiteres. Man wolle das Recht auf Meinungsfreiheit schützen. Facebooks Mitarbeitende selbst kritisieren das in einem offenen Brief: Immerhin würden ohnehin permanent alle Posts überwacht, um Warnungen und Faktenchecks anzufügen oder zu vermeiden, dass einzelne Inhalte viral verbreitet werden. Ausgerechnet bei Donald Trumps Nachrichten voller Hass passiert das aber nicht.

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Immer wieder müssen gerade wissenschaftliche Artikel in führenden Fachzeitschriften zurückgezogen werden – ein „schwerer Rückschlag“ für die Journals schreibt die Süddeutsche Zeitung. In der Regel werden Artikel in Fachzeitschriften erst veröffentlicht, wenn der „Peer Review“-Prozess abgeschlossen ist. Dabei überprüfen Fachkolleg:innen ehrenamtlich die eingereichten Beiträge, bewerten sie anonymisiert und die Autor:innen arbeiten die Kritik ein.

Es ist aufwendig, zu überprüfen, ob die Daten echt und qualitativ hochwertig sind – und trotzdem können die Gutachter:innen nur begrenzt Fehler oder Betrug erkennen. Gleichzeitig ist der Druck hoch: Die ganze Welt wartet auf neue Erkenntnisse zum Coronavirus. Das verleitet die Fachverlage dazu, unausgereifte Studien zu früh zu veröffentlichen. Hinzu kommt laut die Problematik der Preprint-Server: Eigentlich sollten sie Wissenschaftler:innen ermöglichen, vorläufige Ergebnisse in Ruhe ergänzend zu etablierten Zeitschriften zu diskutieren. Genau diese Ruhe gibt es in Zeiten der Coronakrise aber nicht mehr.

Audio des Tages: Verschwörungen, Trump und Depressionen

Die Sendung Religionen im Deutschlandfunk Kultur hat gestern zwei interessante Beiträge gebracht. In „Gefährlicher Verschwörungsglaube – Sinnsuche zwischen Gut und Böse“ geht es um die religiösen Aspekte von Verschwörungsmythen.

In „In Trump we trust“ wird das System von evangelikalen Talk-Radios beschrieben, die in den USA politisch sehr einflussreich sind und eine der stärksten Trump-Unterstützer-Netzwerke bilden. Wer sich gefragt hat, warum Trump zuletzt den Vorplatz des Weißen Hauses von Demonstranten räumen ließ, um einfach nur eine Bibel in Kameras zu halten, findet da mehr Hintergründe.

Über Depressionen wird in unserer Gesellschaft noch zu wenig diskutiert. Bei NDR Kultur berichtet der Journalist und Schriftsteller Benjamin Maack von seiner Depression und bringt seinen Psychiatrie- und Krankenbericht als Hörspiel: Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein.

Video des Tages: Hirn-Nahrung

Die Arte-Dokumentation „Unser Hirn ist, was es isst“ beschreibt, wie gute und schlechte Ernährung Auswirkungen auf unser Wohlbefinden hat.

Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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