[bits] Mit Corona gegen Videoüberwachung

Hallo,

was sollen wir mit den vielen Menschen tun, die gerade jetzt in der Corona-Krise empfänglich für Verschwörungsmythen und -ideologen sind? Die Amadeu-Antonio-Stiftung beschäftigt sich schon lange mit dem Thema und hat jetzt dazu ein Forderungspapier vorgelegt. Darin wird u.a. „ein mit 10 Millionen Euro ausgestattetes Bundesprogramm zur Bekämpfung von Antisemitismus und Verschwörungserzählungen“ gefordert, „das Expertise und Vernetzung zum Thema in Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Sicherheitsbehörden“ fördern soll. Mit der Forderung knüpft man an ein Bundesprogramm für Extremismusprävention und Demokratieförderung an, was diese Entwicklungen noch nicht wirklich berücksichtigt.

Dazu fordert die Stiftung „eine flächendeckende Gefährderanalyse in Online-Communities, aber auch in klassischen offline-Gefährdermilieus sowie konsequente Repressionsmaßnahmen gegen Reichsbürger*innen“, „die Einbindung der Radikalisierungsprävention gegen Verschwörungserzählungen und Desinformationen in die staatliche Strategie zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ und viel mehr Beratungsstellen für Betroffene.

Ich bin mir noch unsicher, was ich von allen Forderungen halten soll, da könnte auch mehr Überwachung für alle bei herauskommen. Aber zumindest ist es gut, wenn von zivilgesellschaftlicher Seite mehr Vorschläge in die politische Debatte kommen, wie auf die aktuellen Entwicklungen reagiert werden soll. Auch weil das Thema lange verschlafen wurde, stehen viele in der Politik noch etwas hilflos diesen Phänomenen gegenüber und hoffen wahrscheinlich auch, dass sich das Problem von selbst lösen wird. Daran glaube ich leider nicht.

Hier findet sich das Forderungspapier „Deradikalisierung bedeutet Infektionsschutz – Maßnahmen zur Eindämmung verschwörungsideologischer Radikalisierung im Zuge der Corona-Pandemie“ (PDF).

Neues auf netzpolitik.org:

Keine Überraschung ist das, worüber Jana Ballweber berichtet, aber man muss immer wieder drauf hinweisen, weil das viele nicht glauben wollen: Deutsche Verwaltung nutzt Microsoft-Produkte nicht rechtskonform.

Deutschlands Datenschützer:innen beklagen, dass Behörden und öffentliche Einrichtungen flächendeckend fast ausschließlich mit Microsoft-Produkten arbeiten – trotz erheblicher Datenschutzbedenken. Ein EU-Papier zeigt, dass diese Abhängigkeit nicht nur ein deutsches Problem ist.

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Demnächst soll man auch im Urlaub im europäischen Ausland eine Kontaktverfolgung von potentiellen Corona-Kontakten möglich sein. Alexander Fanta weiß mehr: Deutsche Corona-Warn-App lernt Italienisch.

Die EU-Kommission testet ab heute ein neues System, das Corona-Tracing-Apps der meisten EU-Länder miteinander verknüpfen soll. Wer in den Herbstferien Italien-Urlaub macht, bekommt dann auch die Warnungen aus dem dortigen System. Doch ausgerechnet im Risikogebiet Frankreich wird die Lösung nicht funktionieren.

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Morgen ist TikTok-Tag. Zumindest hat Donald Trump eine Frist zum 15. September gesetzt, an dem die chinesische Plattform, für den US-Markt, an ein US-Unternehmen verkauft werden müsste. Chris Köver hat die neuesten Entwicklungen zusammengefasst: Oracle schlägt Microsoft im Wettbieten um TikTok.

Das Softwareunternehmen Oracle hat den Bieterwettberwerb um Tiktok gewonnen, berichtet die Washington Post. Es ist jedoch völlig unklar, was damit gewonnen wurde – denn die Schlüsseltechnologie der App soll weiter in der Hand des chinesischen Mutterkonzerns ByteDance bleiben.

Oracle ist bekannt dafür, Übernahmen an die Wand zu fahren. Das kann lustig werden. Aber vielleicht kommt es auch noch ganz anders in dieser Reality-Soap um TikTok.

Kurze Pausenmusik:

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Was sonst noch passierte:

Die Investigativ-Plattform „The Intercept“ wurde in Folge der Snowden-Enthüllungen von Laura Poitras und Glenn Greenwald gegründet und vom früheren eBay-Mitgründer Pierre Omidyar mit 250 Millionen Dollar ausgestattet. Eigentlich eine Traum-Situation für eine Medienorganisation, in die viele Hoffnungen geflossen sind. (Im Vergleich: Wir hatten bei netzpolitik.org im vergangenen Jahr rund 700.000 Euro zur Verfügung).

Aber seit drei Jahren steht eine Geschichte der Entwicklung und Reputation von The Intercept im Weg: 2017 schickte eine NSA-Linguistin den Ausdruck eines geheimen NSA-Reports über russische Hackerangriffe auf US-Wahlcomputer per Post an die Redaktion. Dann geschah ein Anfängerfehler mit großer Wirkung, als der betreuende Reporter das Memo zur Verifizierung an die NSA schickte und es vorher nicht von Wasserzeichen und ähnlichen Merkmalen, die auf die Quelle schließen, bereinigt hatte. Zusätzlich gab der Journalist noch der NSA telefonisch als praktischen Service den Poststempel durch. Mehr ins Knie schießen geht kaum, wobei hier halt jemand anderes getroffen wurde und nicht der Journalist: Noch bevor der Artikel bei The Intercept erschien, wurde die Whistleblowerin Reality Winner verhaftet und ein Jahr später zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt.

Wie ging man damit um, dass man für die Verhaftung einer Quelle verantwortlich ist? Die New York Times hat Einblicke in die internen Debatten um die Geschichte bekommen und aufgeschrieben: The Intercept Promised to Reveal Everything. Then Its Own Scandal Hit.

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Die kommenden drei Wochen experimentiert die von mir mitgegründete re:publica im Rahmen des campus mit digitalen und hybriden Konferenzformaten weiter herum. Und dazu gibt es eine analoge Ausstellung in Berlin-Neukölln mit Exponanten zur Digitalen Gesellschaft. Täglich gibt es mit unterschiedlichen Partnern am späten Nachmittag Programm im Live-Stream. An ein bis zwei Tage die Woche kann man auch vor Ort mitdiskutieren. Die Ausstellung ist häufiger besuchbar.

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Die Niederschlagung der Proteste in Weißrussland wird von dem US-amerikanischen Unternehmen Sandvine unterstützt, dass die passende Netzzensur-Infrastruktur für das dortige Regime liefert. Das sorgt jetzt für Diskussionen in den USA, wie Ryan Gallagher für Bloomberg berichtet: U.S. Company Faces Backlash After Belarus Uses Its Tech to Block Internet.

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Goldene Anfängerregel in der IT-Sicherheit: Auf gar keinen Fall kostenlose VPNs nutzen, um sich vor Überwachung zu schützen. Denn wenn die kostenlos sind und von Unternehmen angeboten werden, dann … hat das natürlich einen Haken. Wired UK berichtet über einige Fälle, wo aufgedeckt wurde, dass Unternehmen kostenlose VPNs anbieten und dabei alle Nutzer:innen massiv überwachen: Free VPNs are a privacy nightmare. You shouldn’t download them.

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Unser Bundesdatenschutzbeauftragter Ulrich Kelber weist daraufhin, dass Videoüberwachung und Gesichtserkennung ein Corona-Problem haben und will diese auf den Prüfstand stellen: Kelber stellt Überwachung in Frage.

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In den 90er Jahren dominierte Microsoft wie kein anderes Unternehmen die digitale Welt. Ars Technica erinnert an die juristischen und politischen Auseinandersetzungen um das Monopol: Revisiting the spectacular failure that was the Bill Gates deposition.

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Der Venture Capitalist Peter Thiel, ebenfalls eBay-Mitgründer und im Facebook-Aufsichtsrat, ist eine umstrittene Person aus dem Silicon Valley. Buzzfeednews hat über seine zahlreichen Verbindungen ins rechtsextreme Lager der USA recherchiert und viel gefunden: Peter Thiel Met With The Racist Fringe As He Went All In On Trump.

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Unsere aktuelle Technologie ist nicht wirklich auf die Apokalypse vorbereitet. Das bekommen gerade viele Menschen an der US-Westküste mit, die mit ihren Smartphones die Feuer ablichten wollen und andere Farben rausbekommen als die Realität anzubieten hat. Der orangene Himmel sieht dann grau aus. Schuld ist die automatisierte Farbkorrektur in diversen Modellen wie neuen iPhones: Your Phone Wasn’t Built for the Apocalypse.

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Bei Zeit-Online analysiert Eike Kühl das politische Potential von „Animal Crossing“ auf der Nintendo Switch: Die Privatinsel ist politisch. Auch wenn mich das Spiel persönlich nicht anspricht, finde ich es faszinierend, wie die Infrastruktur für politische Kommunikation angeeignet wird, sei es von Demokratie-Aktivist:innen in Hongkong oder von US-Politiker:innen.

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Die ARD-Kultursendung Titel, Thesen und Temperamente hat gestern über „Frauenhass im Netz“ berichtet. Gerade Frauen, die für eine offene Gesellschaft eintreten, werden massiv vor allem von Männern im Netz angefeindet.

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Am vergangenen Samstag ist der Chaos Computer Club 39 Jahre alt geworden. SWR2 erinnert an die Gründungszeit: 12.9.1981 – Hacker gründen in Berlin den Chaos Computer Club.

Videos des Tages: Das Social Dilemma und Vogue

Auf Netflix ist „The Social Dilemma“ angelaufen. Die Dokumentation zeigt kritisch die Mechanismen von sozialen Medien und interviewte dazu einige Aussteiger:innen aus der Tech-Industrie. Das wirkt teilweise wie eine Dauerwerbesendung für Organisationen wie dem Center for Humane Technology, ist aber gut gemacht. Und vor allem werden schön die suchterzeugenden Mechanismen von sozialen Medien durch Film-Elemente mit Schauspielern erklärt. Ich hab noch nie eine so niedrigschwellige Beschreibung der Echtzeit-Werbemärkte gesehen, wie hier in „The Social Dilemma“.

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In der ARTE-Mediathek gibt es gerade „KIKI“ zu sehen, eine Dokumentation über die Vogue-Szene in New York, wo diese Kultur zu Emanzipation, Gemeinschaft und Identität in der marginalisierten schwarzen LGBTQ-Gruppe führte. Ich kannte früher nur „Vogue“ von Madonna als Hommage daran und hab die Subkultur erst mehr verstanden, als ich die Dokumentation „Paris is burning“ sah, die quasi die Vorgängerin von „Kiki“ ist.

Netzpolitik-Jobs

Ich bekomme regelmäßig Job-Angebote im netzpolitischen Bereich zugeschickt und dachte mir, dass eine zusätzliche Rubrik ein guter Service sein könnte. Zweimal die Woche werde ich zukünftig auf aktuelle Job-Angebote hinweisen.

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Die Deutsche Welle sucht eine/n „Redakteur (w/m/d) für Digitalpolitik“ in Berlin.

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Die Free Software Foundation Europe setzt sich für die Förderung von Freier Software (im Volksmund auch Open-Source genannt) ein. Für ihr Team in Berlin, das drei Türen weiter neben unserem Büro auf derselben Etage sitzt, sucht die FSFE jetzt eine Büroassistenz.

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Wer sich für Netzpolitik in Österreich interessiert, kommt an epicenter.works nicht vorbei. Die kleine NGO sucht jetzt eine/n Communications- und Campaigner:in mit Arbeitssitz in Wien.

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Der Digital Freedom Fund ist ein weiterer Zusammenschluss verschiedener Stiftungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen bei strategischen Prozessführungen finanziell unterstützt und vernetzt. Dafür wird ein Operations Officer für das Büro in Berlin gesucht. Das ist weitgehend Reise- und Eventmanagement.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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