Hallo,
die Vorratsdatenspeicherung bleibt ein beliebtes Thema in der öffentlichen Debatte. Daran ist auch der NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) mit Schuld, der am Montag vielen Medien in einer Pressekonferenz erklärte, dass Behörden gegen mehr als 30.000 unbekannte Tatverdächtige wegen der Beschaffung von Missbrauchsdarstellungen (sogenannte Kinderpornografie) ermitteln würde. 30.000 Tatverdächtige, das sind ganz schön viele!
Das ging dann auch unkommentiert durch viele Medien und die meisten Journalist:innen hinterfragten die sehr hohe Zahl nicht. Zwei Tage später ist klar, dass der Justizminister im besten Fall etwas verwechselt, im schlechteren Fall die Öffentlichkeit bewusst mit Falschinformationen getäuscht hat.
Denn jetzt ist klar, dass es 30.000 Datenspuren waren, die man gefunden hat. Das ist nicht dasselbe wie Tatverdächtige, sondern wahrscheinlich nur eine sehr kleine Teilmenge. Das NDR-Medienmagazin Zapp hat darüber berichtet: Kindesmissbrauch: 30.000 Tatverdächtige?
Jetzt haben wir wieder eine Debatte, wo Sicherheitsbehörden suggerieren, dass nur mit der Vorratsdatenspeicherung gegen die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen vorgegangen werden könnte, was einfach nicht stimmt. Gegner der Vorratsdatenspeicherung werden als Ideologen bezeichnet, und der neue Terrorismus ist gerade Kinderschutz. Dabei gäbe es bessere Wege, die weniger gefährlich für Freiheit und Rechtsstaat sind und nicht alle Bürger:innen unter Generalverdacht stellen, indem unsere Verbindungsdaten lange gespeichert werden.
Wir leisten uns als Gesellschaft chronisch unterfinanzierte und unterbesetzte Jugendämter und Familiengerichte: Bei allen aktuellen Missbrauchsfällen kam heraus, dass die Fälle früher entdeckt hätten werden können, wenn man denn genauer hingeschaut hätte. Und dafür Ressourcen gehabt hätte. Ganz ohne Vorratsdatenspeicherung.
Die Vorratsdatenspeicherung war von 2008-2010 in Kraft, bis das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig erklärte. Die letzte Große Koalition hat sie 2015 wiedereingeführt, aber ein Gericht hat 2017 entschieden, dass die Wiedereinführung nicht mit Europarecht kompatibel ist, weil der Europäische Gerichtshof die dahinterliegende EU-Richtlinie 2014 für verfassungswidrig erklärt hat.
Jetzt warten wieder alle auf die nächste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die wahrscheinlich in diesem Jahr kommen könnte. Möglicherweise ist die Kampagne von CDU-Ministern (nicht gegendert, das sind immer Männer) in diesem Kontext zu sehen: Ein Bundesverfassungsgericht agiert auch nicht im luftleeren Raum, sondern die Richter:innen setzen ihre Entscheidungen in einen gesellschaftlichen Kontext und der kann sich auch ändern. Und wenn über Medienberichte die ganze Zeit das Framing gesendet wird, dass ohne die Vorratsdatenspeicherung keine Strafverfolgung möglich sei und viele Täter nicht erkannt würden, dann kann das einen Einfluss auf Richter:innen haben.
Wie das Framing wirkt, konnte ich heute Mittag erleben. Für eine Stunde war ich zu Gast im WDR5-Tagesgespräch, um mit Hörer:innen darüber zu diskutieren. Und die meisten Anrufer:innen waren leider bereit, alles an Freiheit abzugeben. Vielleicht lag das auch am Titel der Sendung, der mit „Datenschutz vor Kindeswohl“ leider einen nicht passenden Rahmen setzte. Als ob sich das ausschließen würde.
Wir hatten zwischen 2008-2010 bereits die Vorratsdatenspeicherung mit sechsmonatiger Speicherung, wer mit wem kommuniziert und wo unsere Telefone in der Zeit waren. Das Max Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht hat diese damals untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass das Überwachungsinstrument wirkungslos war und keinen richtigen Nutzen hatte.
Bei Spiegel-Online findet sich eine aktuelle Übersicht, wie auch ohne ermittelt werden kann: Wie Pädokriminelle das Internet nutzen – und wie Ermittler sie finden können. Und immer noch aktuell ist unsere Analyse zur letzten BKA-Werbekampagne: Lügen für die Vorratsdatenspeicherung – Das BKA präsentiert neue Propaganda. Wir kontern.
Neues auf netzpolitik.org
Die Rot-Rot-Grüne Koalition in Bremen hat einen Entwurf für ein Polizeigesetz vorgestellt. Das ist ambivalent, denn es enthält einen Ausbau von Überwachungsmaßnahmen, aber gleichzeitig werden auch die Rechte von Betroffenen bei Polizeikontrollen gestärkt, wie Marie Bröckling analysiert: Streit um Kontrollen bei der Bremer Polizei.
Die rot-rot-grüne Landesregierung will mit einem neuen Polizeigesetz rassistische Polizeikontrollen explizit verbieten und die Rechte von Betroffenen stärken. Oppositionsparteien und Gewerkschaft der Polizei echauffieren sich und nennen den Entwurf ein „Anti-Polizeigesetz“.
Arne Semsrott berichtet über einen Eilantrag zum Kohlegesetz vor Oberverwaltungsgericht bezüglich des Informationsfreiheitsgesetzes: Transparenz nutzt nichts, wenn es zu spät ist.
Wann muss die Bundesregierung die Hintergründe ihrer Gesetzentwürfe offenlegen? Beim Streit um das milliardenschwere Kohlegesetz zeigt sich, dass Auskunftsgesetze oft zu schwerfällig sind – es sei denn, die Gerichte sorgen für Transparenz.
Was sonst noch passierte:
Eine geheime Kooperation, benannt nach einem starken Bier. Unter dem Namen „Maximator“ soll der BND seit den 70ern zusammen mit Dänemark, Schweden und später den Niederlanden und Frankreich eine Abhörallianz gebildet haben – als Gegengewicht zur Five-Eyes-Kooperation der USA mit Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland: BND spionierte jahrzehntelang am Parlament vorbei. Erste Hinweise fanden die Journalisten in den kürzlich bekannt gewordenen Rubikon-Papieren. „Maximator und Rubikon sind Geheimdienstoperationen, die der BND unter Billigung und Mitwisserschaft der Bundesregierung bewusst an der Kontrolle des Parlaments vorbei geführt hat“, sagt dazu André Hahn von den Linken, Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium.
Die britische NGO Big Brother Watch hat ein Video zu den Ausgangsbeschränkungen in Großbritannien produziert. Dabei konzentrieren sie sich vor allem auf den Überwachungsausbau, der mit den Maßnahmen einherging.
Die europäische Verbraucherschutzorganisation BEUC, Privacy International, die Digital-Rights-NGO-Dachorganisation EDRi und viele andere haben in einem offenen Brief ihre Bedenken zur geplanten Fitbit-Übernahme durch Google formuliert. „Google könnte Fitbits außergewöhnlich wertvolle Gesundheits- und Standortdatensätze sowie Datenerfassungsmöglichkeiten nutzen, um seine bereits dominante Position in digitalen Märkten wie der Online-Werbung zu stärken“, heißt es darin. Sie appellieren, die Auswirkungen gründlich zu prüfen, bevor die Übernahme erlaubt wird. Die EU-Wettbewerbsbehörde will darüber in diesem Monat entscheiden.
Neben vielen anderen Organisationen hat jetzt auch die amerikanische Association for Computing Machinery (ACM) ein Statement veröffentlicht, in dem sie den Gesetzgeber bittet, Gesichtserkennung sowohl für Unternehmen wie auch für Behörden zu verbieten. Die Technologie sei noch nicht ausreichend ausgereift und deshalb eine Gefahr für die Menschenrechte, heißt es in der Stellungnahme.
Eine Oxford-Studie hat 2018 die 100 größten US-Städte danach untersucht, ob es eine Korrelation zwischen Polizeigewalt und starken Polizeigewerkschaften gibt. Die Forscher:innen kamen zu dem Ergebnis, dass es mehr Polizeigewalt gab, je besser Polizist:innen vor Nachforschungen geschützt seien: How Police Unions Enable and Conceal Abuses of Power. In diesem Kontext ist auch folgende Meldung zu sehen, die ein Ergebnis der Kampagne um #defundthepolice ist: New Yorker Polizeibudget um eine Milliarde Dollar gekürzt.
Foodoora hatte ein Datenleck und es gibt im Netz eine Liste mit 727.000 betroffenen Accounts und Passwörtern, die zumindest teilweise gut verschlüsselt sein sollen. Darunter sollen auch 200.000 deutsche Accounts sein.
Bei Musik-Plattformen denkt man sofort an Spotify, vielleicht auch noch an Soundcloud. Aber dann gibt es noch Bandcamp, die unter Musiker:innen einen sehr guten Ruf haben, weil die Plattform Künstler:innen ermöglicht, die eigene Musik direkt an Fans zu vertreiben. Der Guardian hat ein langes Portrait über Bandcamp gemacht und wie die Plattform in der Coronakrise agiert. Und das ist spannend: Good vibrations: how Bandcamp became the heroes of streaming.
Das Bundesverfassungsgericht hat zukünftig mehr Richterinnen als Richter und das ist eine kleine Sensation, wie Christian Rath in der Taz schreibt. Denn etwas unerwartet soll am Freitag die ostdeutsche Rechtsprofessorin Ines Härtel gewählt werden, die auch Expertise in Fragen der Digitalisierung haben soll.
Der NDR-Podcast „Die Zwei von der Ladesäule“ behandelt das Thema E-Autos in Deutschland. Das ist eien traurige Geschichte, denn selbst wenn man ein solches Auto hat, bekommt man nicht überall dafür Strom. Und man braucht im Idealfall einen Kofferraum voller Adapter, um auch wirklich an jeder Strom-Säule in Deutschland tanken zu können, von denen es nicht viele gibt, aber mit vielen unterschiedlichen Anschlüssen.
Die ZDF-Scrolldokumentation „Vom Schwein zum Schnitzel“ beschreibt anschaulich „das kurze Leben eines Schweins in deutscher, konventioneller Massentierhaltung“. Guten Appetit.
Video des Tages: Stax Records
In der ARTE-Mediathek gibt es eine Dokumentation über Stax Records: Wo der Soul zu Hause ist. Das war ein legendäres Indie-Soullabel aus Memphis, das zahlreiche schwarze Künstler:innen hervorgebracht hat, die auch zu Sprachrohren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wurden.
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Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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