Hallo,
am Freitag war ich mir die sogenannte „Hygiene-Demonstration“ in Berlin-Mitte kurz anschauen, um mir ein eigenes Bild zu machen. In den vergangenen Wochen hatte ich immer nur darüber gelesen oder mir von Freunden und Bekannten darüber berichten lassen. Ich hab keine Ahnung, wer warum auf den Begriff „Hygiene-Dmeos“ gekommen ist, aber vor Ort bot sich mir ein Bild der üblichen Anhänger:innen der Verschwörungsindustrie. Dazu zähle ich diverse Medien im Netz, die in den vergangenen Jahren ein erfolgreiches Geschäftsmodell damit aufgebaut haben, Menschen, die verunsichert sind und die Komplexität der Welt reduzieren wollen, die passenden Verschwörungsmythen als Glaubensrichtung anzubieten.
Ein Problem dabei ist, dass viele verunsicherte Menschen danach noch verunsicherterund unglücklicher werden und keinerlei Vertrauen mehr in Institutionen haben, weil doch alles nur eine große Verschwörung wäre (Cui Bono!11). Und so fällt man immer weiter in ein Kaninchenloch rein. Das passende Buch für das Thema ist übrigens „Angela Merkel ist Hitlers Tochter. Im Land der Verschwörungstheorien“. Mit einem der beiden Autoren hab ich auch mal einen Podcast aufgezeichnet: Die Chemtrails GmbH – Verschwörungsmythen für Einsteiger und Fortgeschrittene.
Ich hab persönlich noch nie verstanden, warum man dubiosen Webseiten im Netz und den russischen Propagandasendern mehr Vertrauen aufbringt als allen journalistischen Medien zusammen, aber ok. Klassische „Lügenpresse“-Argumentation. Ich hab da als Journalist wohl eine andere Auffassung und Lebenserfahrung.
Ganz verkürzt zusammengefasst bot sich mir am Freitag bei einem versuchten Sturm auf die Volksbühne ein Bild, wonach sich viele Menschen dort Sorgen vor mehr Überwachung machen (kann ich verstehen), sich um Grundrechte Sorgen machen (auch das kann ich sehr verstehen), aber sonst irgendwie an eine große Impfverschwörung glauben (Ich freu mich ja persönlich auf den Moment, wo es eine funktionierende Corona-Impfung gibt, denn erst dann fängt die Normalität wieder an), Angst vor 5G haben (Aus technischer Sicht ungerechtfertigt, vor allem gibt es leider so gut wie keinen 5G-Ausbau) und tendenziell Russland toll und die USA böse finden. Außerdem hat man offensichtlich keine Angst vor Nazis, sonst würde man nicht gemeinsam mit denen demonstrieren, sondern hat vor allem Angst vor Bill Gates (Bei mir ist das ja diametral anders herum).
Zumindest aus meiner persönlichen Perspektive kann ich nur sagen, dass die bisher in diesem Newsletter verlinkten Artikel zu dem Thema meine Beobachtungen bestätigten. Oder anders gesagt: OMG! WTF!
Sehr schön zusammengefasst wurde das vergangene Woche von Annett Gröschner in ihrer Kolumne für die Volksbühne, die sich wiederum durch ihre Außenbilder von dem Protest distanzierte: Hygiene-Inspektion.
Im Deutschlandfunk Kultur erklärte der Journalist Bernd Harder, Sprecher der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V.“ (GWUP), dass wir es in der jetzigen Situation mit einer „Mischung aus Macht- und Kontrollverlust“ zu tun hätten, „die die Menschen anfällig für solche Verschwörungstheorien macht.“ Das kann ich gut nachvollziehen: Mit Corona schlägt die Stunde der Verschwörungstheorien.
Dazu passt auch dieser Tagesspiegel-Artikel: Attila Hildmann zieht bewaffnet „in den Untergrund“. Der Koch Attila Hildmann ist schon früher durch seine beschränkte mentale Leistungsfähigkeit und kurze Zündschnur aufgefallen, nun will er offenbar „mit Waffe in der Hand und erhobenen Hauptes“ für unsere (aha) Freiheit kämpfen, wenn es denn notwendig sein sollte. Auf seiner Facebook-Seite redet er von der Neuen Weltordnung und taucht tief in die Verschwörungskiste ab, berichtet der Tagesspiegel. Leider ist er da bereits in prominenter Gesellschaft. Zurück zu den Ei-freien Waffeln, will man ihm da am liebsten zurufen.
Neues auf netzpolitik.org
Chris Köver hat sich für Folge 201 des Netzpolitik-Podcasts mit den vier Forscher:innen Femke Snelting, Helen Pritchard, Miriyam Aouragh und Seda Gürses über die vergessenen Fragen in der Debatte um eine Corona-App unterhalten: „Wie sich die Debatte um Corona-Tracing ändern muss“.
In der neuen Folge unseres Podcasts sprechen vier Forscher:innen über die sozialen Folgen der neuen Apps für die Kontaktverfolgung. Warum sprechen wir über diese Werkzeuge schon so, als gäbe es keine Alternativen? Und welche Fragen sollten wir stattdessen stellen?
Ingo Dachwitz erklärt die Debatte und Hintergründe um Datenschutz-Folgenabschätzungen: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“.
Neue Technologien wie Corona-Tracing-Apps rufen Misstrauen hervor. Ein bislang unterschätztes Instrument der Datenschutzgrundverordnung könnte mehr Transparenz und damit Vertrauen schaffen.
Julia Barthel über: „Spahn schlägt Immunitätsausweis vor“.
Eine Steilvorlage für eine weitere Corona-App – der neue Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Schutz vor Epidemien hat es in sich. Teil des Vorschlags ist ein Immunitätsausweis, doch beim Coronavirus fehlen noch wissenschaftliche Belege, dass nach einer Infektion überhaupt Immunität besteht.
Matthias Monroy über „EU öffnet größte Fahndungsdatenbank für Geheimdienste aus Drittstaaten“:
Im Schengener Informationssystem können Polizeien und Geheimdienste Personen zur heimlichen Beobachtung ausschreiben. Über einen Umweg lassen jetzt Behörden aus Nicht-EU-Staaten geheimdienstliche Fahndungen vornehmen. Über die genaue Rolle des Verfassungsschutzes schweigt die Bundesregierung.
Alexander Fanta über „Norwegen plant Überwachung des Internetverkehrs“:
Die norwegische Regierung drängt trotz Pandemie auf ein neues Überwachungsgesetz. Der Geheimdienst soll Metadaten aus Telefon- und Internetnutzung für 18 Monate speichern dürfen.
Leonhard Dobusch mit einer neuen Kolumne in seiner Reihe „Neues aus dem Fernsehrat“: „Wie transparent dürfen Rundfunk- und Fernsehräte sein?“
Restriktive Vertraulichkeitsregeln erschweren die Arbeit und demokratische Rückbindung von Aufsichtsgremien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Im ZDF-Fernsehrat stellt sich die Frage, wie weit es Aufsichtsgremien selbst in der Hand haben, transparenter zu werden. Ein Interview mit dem Medienrechtsexperten Stephan Dreyer.
Tomas Rudl über das Programm des nächsten netzpolitischen Abends: „Apps abschätzen und digitale Zivilgesellschaft stärken“.
Beim netzpolitischen Abend der Digitalen Gesellschaft dreht sich diesmal alles rund um die Corona-Pandemie. Aktivist:innen berichten über Corona-Apps und dazugehörige Datenschutzfolgenabschätzungen sowie über Empfehlungen an die Politik, ein besseres digitales Ökosystem zu schaffen.
Wissenswertes zur Coronakrise
„Was man über Schutzmasken wissen muss“ hat die Redaktion von Quarks und Co schön zusammengefasst.
Die Entwicklungen und den Ausbau des Überwachungs- und Kontrollapparates in Israel hat Jacobin gut zusammengefasst: Israel Is Militarizing and Monetizing the COVID-19 Pandemic.
Na, auch mal bisschen pandemische Glaskugel spielen? Der Schweizer Epidemiologe Marcel Salathé hat gemeinsam mit dem Indie-Spiele-Entwickler Nicky Case eine interaktive Geschichte geschrieben, mir der sich unterschiedliche Zukunftsszenarien in der Entwicklung der Pandemie durchspielen lassen: What Happens Next? Einfach Regler hin und her schieben und schauen, wie sich die Kurven über die Zeit verändern. Ganz nebenbei lernt man dabei noch einiges über epidemiologische Modelle, den neuerdings so prominenten Wert R und warum nach dem Lockdown jetzt die Phase „Test, Trace & Isolate“ beginnen könnte.
Was sonst noch passierte:
Es gibt weitere Analysen zu den Urteilen des Bundesgerichtshof am vergangenen Donnerstag. In der Legal Tribune Online ordnet Markus Sehl die Entscheidungen ein: BGH setzt dem Urheberrecht neue Grenzen.
Die ehemalige EU-Abgeordnete Julia Reda hat die Urheberrechtsreform hautnah begleitet und kommentiert aus ihrer Perspektive: Bundesgerichtshof verteidigt Pressefreiheit, Sampling-Streit geht in nächste Runde. Etwas Hoffnung hat sie bei der Samling-Frage, die EU-Urheberrechtsreform lässt Spielraum durch eine Pastiche-Schranke, denn damit würde „erstmals ein positives, einklagbares Nutzungsrecht“ geschaffen. Ein Pastice ist übrigens „ein Kunstwerk literarischer, musikalischer, filmischer oder architektonischer Art, das offen das Werk eines vorangegangenen Künstlers imitiert“ (laut Wikipeda).
„Seit 11.30 Uhr gehen in der c’t-Redaktion vermehrt Hinweise auf einen neuen E-Mail-Wurm ein, der sich offenbar rasant im Internet verbreitet“, hieß es 2000 bei Heise. Heute blickt Detlef Borchers auf den Wurm zurück, der geschätzte 5,5 Milliarden US-Dollar Schaden verursachte: Vor 20 Jahren: Ein verliebter Wurm umrundet die Welt. „Nach vorsichtigen Schätzungen befiel der Wurm innerhalb von 24 Stunden 45 Millionen Rechner: Alle Welt wollte Liebe.“ Hach…
Ein IT-Sicherheitsforscher hat untersucht, in welchem Ausmaß sein Xiaomi-Smartphone nach Hause telefoniert: Warning Over Chinese Mobile Giant Xiaomi Recording Millions Of People’s ‚Private‘ Web And Phone Use. Er kam zum Ergebnis, dass er eine Backdoor mit Telefonfunktionen besitzt. Website-Aufrufe und Suchbegriffe würden zum Hersteller geschickt. Xiaomi bestätigte zwar die Datenspeicherung, betonte aber, die Daten würden anonymisiert.
Audio des Tages: Diskriminierung durch Technik
Katharina Nocun hat für die neue Folge ihres Denkangebot-Podcasts das Thema Diskriminierung durch Algorithmische Entscheidungssysteme aufbereitet.
Video des Tages: Deep-Fakes
Auf der vergangenen Tincon, dem Jugend-Ableger aus dem re:publica-Universum, hat Anna Biselli von netzpolitik.org einen Vortrag über Deep-Fakes gehalten. Mit Deep-Fakes beschreibt man alle Techniken, um durch den Einsatz von Audio- und Video neue Realitäten zu schaffen und andere zu imitieren. Da hat sich in den vergangenen Jahren viel getan und langsam wird das zu einer größeren gesellschaftlichen Herausforderung, die man zwischen Propaganda, Desinformaton, Parodie und sonstigem einsortieren kann. Der Vortrag ist knapp über 30 Minuten lang und gibt einen guten Einstieg in das Thema.
Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freu mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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