Hallo,
die EU-Kommission möchte mal wieder mehr gegen Desinformation tun. Dazu hat man mal wieder die großen Plattformen aufgefordert, mehr zu tun und die Probleme bitte zu lösen.
Eines der Kernprobleme wird dabei nicht angefasst: Wir wissen zu wenig darüber, wie die Plattformen funktionieren und wie diese von Akteuren mit dem Ziel der Desinformation bespielt werden können. Das hat vor allem zwei Gründe: Wir haben selbst als Gesellschaft zu lange an Netzforschung gespart bzw. sie nicht für relevant erachtet, weil das ja was mit Digital und Zukunft zu tun hatte und das viele entscheidenden Personen lange nicht für relevant gehalten haben. Mittlerweile gibt es dazu mehr, aber es rächt sich einfach, dass die dafür zuständigen wissenschaftlichen Strukturen erst in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht wurden. Zu spät.
Das größere Problem ist aber, dass Wissenschaftler:innen ein Zugang zu den Mechanismen und Daten im Hintergrund der Plattformen fehlt. Selbst wenn man engagiert ist und ausreichend Ressourcen hätte, letztendlich bleiben die Plattformen eine Blackbox. Und damit weniger demokratisch kontrollierbar, auch weil uns faktenbasierte Entscheidungsgrundlagen fehlen.
Hier hat die EU-Kommission leider ein wiederholtes Male versäumt, Plattformen zu verpflichten, Forschenden mehr Zugang zu geben. Über die Zugangsbedingungen können und müssen wir reden, damit nicht wieder ein Fall wie Cambridge Analytica auftritt. Aber gar nichts zu tun bedeutet auch, dass es immer noch ein Ungleichgewicht gibt und die Plattformen mehr Macht haben als sie vielleicht sollten. Denn diese wissen durch ihre internen Daten und auch durch ihre eigene Forschung viel besser, wie ihre Infrastrukturen auf die Gesellschaft wirken und wie sie weshalb konkret funktionieren. Nichts Genaues weiß man leider nicht.
Alexander Fanta ordnet die heutigen Schritte und Wünsche der EU-Kommission ein: Plattformen sollen transparenter werden.
Und Tomas Rudl hat ein konkretes Beispiel zweier Anzeigen des rechtsradikalen Kopp-Verlages, die auf Youtube auftauchten und erst nach unseren Fragen ans Unternehmen entdeckt und entfernt wurden: Youtube zeigte Werbung für rechtsextremen Mythos vom „Bevölkerungsaustausch“ an. Die spannende Zusatzfrage ist natürlich, ob die Unternehmen selbst noch wissen, was ihre automatisierten Entscheidungssysteme (aka „Algorithmen“) überhaupt noch tun, wenn sie z.B. einen voll automatisierten Werbemarktplatz anbieten. Und welche Regeln wir als Gesellschaft setzen wollen, um hier Transparenz und Verantwortung durchzusetzen. Das und noch mehr wird schon im Rahmen der EU-Gesetzgebung „Digital-Service-Act diskutiert, die uns die kommenden Jahre begleiten wird.
Neues bei netzpolitik.org:
ich hab in der gestrigen Ausgabe schon kurz darauf hingewiesen, dass IBM aus dem Geschäft der automatisierten Gesichtserkennung aussteigen will. Markus Reuter hat die Hintergründe der Entscheidung zusammengestellt: IBM stellt sich gegen Gesichtserkennungstechnologie. Spannend daran: Der Entscheidung von IBM ist eine jahrelange Debatte über rassistischen Bias von Algorithmen und Gesichtserkennung vorausgegangen. Schwarze Wissenschaftlerinnen wie Joy Buolamwini oder Timnit Gebru hatten das Thema erforscht und in Projekten wie Gender Shades und Vorträgen darauf hingewiesen.
Reporter ohne Grenzen und weitere NGOs haben die EU-Kommission und die 27 EU-Staaten gewarnt, geplante Regeln für den Export von digitaler Überwachungssoftware zu verwässern. „Wir bedauern zutiefst, dass sich einige Mitgliedsstaaten entschieden gegen eine strengere Gesetzgebung aussprechen, die [eigene] Interessen über Werte stellt“, heißt es in einem offenen Brief von fünf Organisationen an den EU-Handelskommissar Phil Hogan, über den Alexander Fanta berichtet: NGOs warnen vor faulen Kompromissen.
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Wissenswertes zur Coronakrise:
Es gibt Fortschritt bei der Frage, wer denn einen Krankenkassen-finanzierten Corona-Test bekommen darf. Rückwirkend ab Mitte Mai werden nicht nur die Tests für Kontaktpersonen finanziert, die auch Symptome zeigen. Sondern auch für die, die einfach nur Kontaktpersonen sind. Das ist gut, denn so bekommt man wahrscheinlich Einblicke in die Dunkelziffern. Außerdem war alles andere auch nicht verständlich. Die neuen Regeln haben auch Auswirkungen auf die Corona-Tracing-App. Wer darüber informiert werden wird, dass man mehr als 15 Minuten mit einer später positiv getesteten Kontaktperson verbracht hat, bekommt dann auch einen Test ohne dafür bezahlen zu müssen. Ebenfalls sollen Massentests bezahlt werden, wenn z.B. in einem Pflegeheim oder in einer Schule ein Ausbruch stattgefunden hat. Die Taz hat Details: Tests für alle Kontaktpersonen.
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Lars Fischer gibt bei spektrum.de einen Überblick, was man über Superspreader weiß: Wie Sars-CoV-2 in Deutschland aussterben kann. Die beste Strategie gegen Superspreader ist, weiter Massenkontakte zu beschränken. Das ist zwar blöd für Bars, Clubs, Chöre und andere Großevents, und vor allem für unsere Freiheit und Freizeit, aber das scheinen nach derzeitigem Stand der Forschung eben die Orte zu sein, wo einzelne Superspreader, die man immer noch nicht genau verstanden hat, am meisten Schaden anrichten können.
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In dieselbe Richtung geht auch dieser Artikel in der Financial Times, der nochmal aufzählt, welche mittlerweile bekannten Faktoren eine größere Infektionswelle begünstigen: How to avoid the virus as the world reopens.
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Die New York Times hat 511 Epidemiolog:innen (Infektionsforschende) befragt, wann sie persönlich welche Aktivitäten wieder aufnehmen werden: When 511 Epidemiologists Expect to Fly, Hug and Do 18 Other Everyday Activities Again. Dabei geht es ums Fliegen, fremde Menschen treffen oder einfach nur um die Frage, ob man in ein Restaurant gehen wird. Interessant ist auch die Vorschau, die Befragten hatten vier Felder zu beantworten, von „in diesem Sommer“ über „in 3-12 Monaten“ über „in einem Jahr und später“ oder „niemals wieder“. 6% wollen nie wieder jemanden die Hand geben, nur 14% wollen diesen Sommer wieder ins Fitnessstudio (ok, hier weiß man aber nicht, ob die befragten Wissenschaftler:innen das ohne Coronakrise anders beantwortet hätten), aber 60% würden jetzt wieder normal zum Arzt gehen. Spannend auch die Frage, ob man sich ein Büro teilen möchte: 27% können sich das in diesem Sommer wieder vorstellen, 54% dann in 3-12 Monaten. 7% wollen diesen Sommer aufhören, eine Maske zu tragen, 40% dann später, aber 52% gehen noch in einem Jahr davon aus, eine Maske zu tragen.
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Eine gängige Größe in der Debatte um die Einführung einer Corona-Tracing-App zur Nachvollziehbarkeit von Infektionsketten war immer, dass 60% der Bevölkerung eine solche App nutzen müssten, damit sie Sinn macht. Und diese 60% sind nicht so einfach zu bekommen, das gelang bisher erst richtig Whatsapp. Allerdings sind die 60% nicht in Stein gemeißelt. Forschende der Uni Oxford fühlen sich einfach falsch verstanden und interpretiert. Bereits mit weniger Durchdringung in der Bevölkerung könnte Contact-Tracing Sinn machen: No, coronavirus apps don’t need 60% adoption to be effective.
Was sonst noch passierte:
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) hat die Medienforscherin Johanna Haberer zum Umgang der Medienlandschaft mit der Coronakrise interviewt: Medienforscherin über inszenierte Corona-Konflikte: “‘Bild’-Chef Julian Reichelt schlägt um sich”. Die Bild-Angriffe auf Drosten sieht sie als Stellvertreterkrieg, um Angela Merkel zu treffen und zu verhindern, dass sie womöglich eine weitere Legislaturperiode Kanzlerin bleibt (was sie auch zuletzt wieder im Fernsehinterview ausgeschlossen hatte).
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Am kommenden Montag läuft im Format Story in der ARD eine SWR-Dokumentation über „Inside Wuhan – Chronik eines Ausbruchs„. Das klingt erst mal interessant, wirft aber einge medienethische Fragen auf: Die Dokumentarfilmer:innen waren gar nicht in China vor Ort, sondern haben mit dem China Intercontinental Communication Center (CICC) zusammengearbeitet, das ist quasi die PR-Abteilung des chinesischen Regimes und damit das Gegenteil von unabhängigen Journalismus. Die Süddeutsche Zeitung behandelt das Thema: Peking liefert die Bilder
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Es ist gar nicht so einfach, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden. Wissen über Privatsphäre im Internet, IT-Sicherheit oder dem souveränen Umgang mit Smartphones und Informationen fällt nicht vom Himmel – und trotzdem gibt es nur wenige strukturierte Informationsquellen. Das will die internationale NGO „Tactical Tech“ mit Sitz in Berlin ändern: Ihr Arbeitsbuch Data Detox x Youth soll jungen Menschen helfen, über ihren eigenen Umgang mit Technik zu reflektieren – von Social-Media-Profilen bis hin zu sicheren Passwörtern. Das PDF eignet sich für das (virtuelle) Klassenzimmer, Workshops in Jugendgruppen oder einfach für zu Hause.
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Es ist immer mehr ein Problem, wenn Minister:innen und Staatssekretär:innen ihre beruflichen Smartphones löschen lassen und damit leider Beweise vernichten, die Untersuchungsausschüsse im Parlament für ihre Arbeit benötigen. Konkret gab es aktuell die Fälle von Ursula von der Leyen und Andreas Scheuer. Die aktuellen Regeln stammen aus dem Jahre 2001 und sind absurd, weil Minister:innen selbst entscheiden können, ob die Daten entscheidungsrelevant sind – oder eben nicht. Und da das niemand unabhängig überprüfen kann, werden die Daten einfach gelöscht, bevor sie gegen jemand verwendet werden können. Der Bundestag will das jetzt durch Empfehlungen ändern, leider sind die nicht so scharf, wie der Bundestag es machen könnte und sollte: Daten sollen gesichert werden.
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Über den Streit in der New York Times über den militanten „Send the Troops in“-Gastbeitrag eines Trump-nahen Senators hatte ich vergangene Woche schon geschrieben. Grob zusammengefasst forderte der Senator, dass gegen Protestierende gegen Polizeigewalt mit dem Militär vorgegangen werden sollte und viele Leser:innen, aber auch Journalist:innen der New York Times fühlten sich dadurch persönlich bedroht und sahen eine publizistische Grenze überschritten. Der zuständige Meinungsseiten-Chef ist mittlerweile zurückgetreten. Einen guten Überblick auf die Debatte liefert der Journalismusforscher Jay Rosen in seinem Blog Pressthink: Battleship Newspaper.
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The Intercept hat durch Informationsfreiheitsanfragen die Pläne für ein „War game“-Szenariopapier des Pentagon erhalten. In diesem „2018 Joint Land, Air and Sea Strategic Special Program (JLASS)“ gibt es verschiedene Szenarien, auf die man sich strategisch vorbereiten möchte. Eins ist ein Aufstand der Generation Z (grob gesagt die ab 1996 geborenen), die sich irgendwann auflehnen würden, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen könnten. Kann ich mir vorstellen, dass die in der US-Regierung etwas Angst vor jungen Menschen haben, deren Zukunft gerade kaputt gemacht hat. Mehr Details zu dem Szenario, das durch die aktuellen #blacklivesmatter-Proteste sehr aktuell geworden ist, gibt es bei The Intercept.
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In einem Interview auf medienpolitik.net nennt Peter Arens, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Geschichte und Gesellschaft, weitere Hintergründe, warum das ZDF jetzt mit freien Lizenzen experimentiert: „Unsere Schatzkiste kann als Public Value genutzt werden“.
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Die Sozialpsychologin Pia Lamberty wird gerade von vielen Verschwörungsdeppen persönlich bedroht und organisiert zugespammt, weil sie offen über ihre Forschung spricht. Daher sei hier auf ihre aktuellen Arbeiten verwiesen: Für die Friedrich Ebert-Stiftung hat sie eine Kurzstudie mit dem Titel „Verschwörungsmythen als Radikalisierungsbeschleuniger – Eine psychologische Betrachtung“ verfasst. Und bei Endstation Rechts gibt es ein aktuelles Interview mit ihr: „Verschwörungstheorien wurden zu lange belächelt“. Ihr aktuelles Buch „Fake Facts“, das sie mit Katharina Nocun zusammen geschrieben hat, liegt noch weit oben auf meinem Bücherstapel. Darüber schreibe ich, wenn ich es gelesen habe (soll gut sein).
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Wer beim Home Schooling Anschauungsmaterial zu Computerhistorie braucht oder wer einfach nur aus Spaß an der Freude zur Bastelschere greifen mag: Rocky Bergen stellt Papiervorlagen zum Ausschneiden, Falten und Zusammenkleben bereit. Zu den Modellen von Apple II, Commodore VIC-20 und Co. gibts jeweils ein paar kurze Absätze Geschichte und Anekdoten: Construct the computer from your childhood.
Video des Tages: I am not your Negro
In der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es den Oscar-nominierten Dokumentarfilm „I am not your Negro“, der aktuell durch die #blacklivesmatter-Proteste sehr aktuell geworden ist.
Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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