[bits] Pressefreiheit auf der Anklagebank

Hallo,

In London hat heute die Hauptverhandlung darüber begonnen, ob der Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA ausgeliefert werden kann. Die USA bemühen sich seit zehn Jahren, Assange für Veröffentlichungen von Wikileaks anzuklagen. Dabei geht es vor allem um Dokumente, die die Whistleblowerin Chelsea Manning Wikileaks übergeben hatte, die das Transparenzprojekt dann in Kooperation mit traditionellen Medienhäusern wie dem Spiegel, dem Guardian oder der New York Times eine kollaborative und gemeinsame Berichterstattung initiiert haben.

Dabei geht es um Fälle wie das „Collateral Murder“-Video, die Veröffentlichung von Depeschen US-amerikanischer Botschaften („Cablegate“), die Veröffentlichung des Kriegstagebuchs des Afghanistan-Krieges („Afghan War Diary“) oder die Veröffentlichung des Kriegstagebuchs des Irak-Krieges („iraq war logs“).

Es geht um die konkreten Anschuldigungen, nicht um das Verhalten von Assange

Es ist immer schwierig, die konkreten Anklagepunkte gegen Assange von seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit zu trennen. Trotzdem ist das wichtig und notwendig.

Obwohl Julian Assange die Veröffentlichungen in einem journalistischen Ökosystem koordiniert hat, versuchen die USA, ihn wegen Hackens ins Gefängnis zu bringen. Seine Gegner versuchen den Eindruck zu erwecken, dass es sich bei diesem Fall nicht um eine Auseinandersetzung um die Pressefreiheit handeln würde, weil Assange kein Journalist sei. Ihm wird als zentraler Punkte vorgeworfen, er solle Chelsea Manning als Quelle technisch unterstützt haben, ihr Daten auf einem sicheren Wege zu transferieren, und er soll sie motiviert haben, weiteres Material zu organisieren. Dazu kommen noch Vorwürfe, die Veröffentlichungen durch Wikileaks hätten Menschenleben gefährdet.

Auch wenn die Anklage diesen Weg geht und ihn als Hacker und nicht als Journalisten anklagt, ist das ein Angriff auf die Pressefreiheit. Denn Wikileaks war bei den Veröffentlichungen ganz klar in ein journalistisches Ökosystem eingebunden. Und die konstruierten Vorwürfe könnten auch gegen uns angewendet werden: Auch wir geben (nicht nur) unseren potentiellen Quellen Tipps und Tricks zur digitalen Selbstverteidigung und empfehlen Tools und Wege, die eigenen Datenspuren zu minimieren oder zu verstecken sowie Verschlüsselungswerkzeuge zu nutzen. Ist das auch schon eine „technische Unterstützung“?

Julian Assange drohen bis zu 175 Jahre Haft, wenn man alle Anklagepunkte zusammenaddiert. Das bisherige Agieren der US-Regierung lässt große Zweifel aufkommen, dass er in den USA mit einem fairen Prozess rechnen kann. Durch die Veröffentlichungen wurden die USA diplomatisch blamiert und Kriegsverbrechen offengelegt, das wird keinem Journalisten verziehen. Daher ist die Jagd auf Assange auch als Zeichen an andere Journalist:innen zu verstehen, dass man sich nicht mit den USA anlegen sollte, auch wenn man Kriegsverbrechen dokumentiert.

In Zeiten der Corona-Pandemie und noch immer hohen Infektionszahlen in Großbritannien ist das Verfolgen der öffentlichen Verhandlung ein Thema für sich: Die Anzahl der Berichterstatter musste wegen der Ansteckungsgefahr reduziert werden, das mediale Interesse ist aber nach wie vor hoch. Medienvertreter standen sich schon vor Ausbruch von Corona die Beine in den Bauch, um an einen Platz im Gerichtssaal zu kommen. Nun ist es praktisch fast unmöglich geworden, live zu berichten.

Das hat auch damit zu tun, dass sich das Gericht wenig schert um die Online-Übertragung. Sie funktionierte in der Vergangenheit nicht durchgehend, was verständlicherweise Verärgerung auslöste. Gerade US-amerikanische Journalisten sind auf den Stream angewiesen, da sie durch die Pandemie und die damit einhergehenden Einreisebeschränkungen mit langen Quarantänezeiten schon faktisch kaum physisch teilnehmen könnten.

Gut ist jedoch, dass sich Journalistenverbände verstärkt engagieren, um auf die Misere hinzuweisen und das Gericht unter Druck zu setzen, der Presse eine bessere Möglichkeit zur Berichterstattung zu geben.

Wenn die Auslieferung durchkommt und Assange möglicherweise für immer im Gefängnis landet, kann das massive Auswirkungen auf die Pressefreiheit haben, allein durch die Chilling effects und den Präzedenzfall.

Deshalb: Freiheit für Julian Assange

Wir drücken die Daumen, dass er in einem fairen Prozess seine Unschuld beweisen kann. Aber viel Hoffnung auf diesen fairen Prozess haben wir nicht. Kritischer und investigativer Journalismus darf kein Verbrechen sein.

Im Vorfeld der Hauptverhandlung hat die ARD eine aktuelle Wikileaks-Dokumentation veröffentlicht: Wikileaks – Die USA gegen Julian Assange.

Verbrecher oder Revolutionär? Die Doku beleuchtet den Aufstieg und Fall von Julian Assange – vom gefeierten Publizisten zum als Spion und Vergewaltiger verschrienen Sonderling. Es entsteht ein differenziertes Bild von Assange und Wikileaks.

Am Wochenende diskutierten Noam Chomsky, Alice Walker und Daniel Ellsberg über die Vorwürfe und die Anklage. Davon gibt es ein Video.

Neues auf netzpolitik.org:

Der Chaos Communication Congress wird Corona-bedingt zum Remote Chaos Experience, Markus Reuter beschreibt die Pläne: Der CCC-Kongress wird dieses Jahr dezentral und digital.

Lange war gerätselt worden, ob es im Corona-Jahr einen CCC-Kongress geben würde. Jetzt ist klar: Der diesjährige Kongress wird ein dezentrales Experiment mit neuem Namen.

Ingo Dachwitz erklärt Veränderungen beim Targeted Advertising: Facebook und Instagram streichen die Racial-Profiling-Option für zielgerichtete Werbung

Lange Zeit konnten US-Werbetreibende gezielt Menschen von Anzeigen ausschließen, denen Facebook die Merkmale „African American“ oder „Hispanic“ zuschrieb. Nach Protesten, Gerichtsverfahren und etlichen Besserungsversprechen hat der Konzern die Funktion jetzt endlich eingestampft.

Über unsere Recherchen zur geplanten „Bildungsflatrate“ hatte ich vor einigen Tagen bereits berichtet. Charlotte Pekel hat jetzt alles mal zusammengeschrieben (sofern das überhaupt möglich ist, weil niemand konkretes sagen kann): Geplante Internet-Flatrate für Schüler:innen verfehlt womöglich das Ziel.

Bund und Länder wollen allen Schüler:innen einen Zugang zum Internet ermöglichen. Der Zeitplan ist ehrgeizig, das Vorgehen der Bildungsministerin fragwürdig. Ein Tarif der Telekom könnte die anvisierten Ziele zunichte machen.

Constanze Kurz schreibt über Problem-Geschäftsmodelle: Google verheddert sich im eigenen Überwachungsapparat.

Arizonas oberster Jurist meint es ernst und will Googles Geschäftsmodell bei standortbasierter Werbung an den Kragen: Es sei ein Gesetzesverstoß, wie der Datenkonzern beim Sammeln von Bewegungsdaten Nutzer in die Irre führt. Aussagen von Angestellten sowie Papiere aus Google-Krisensitzungen belegen die Vorwürfe und z

In unserem Netzpolitik-Podcast Folge 209 ging es wieder „Off The Record“ um Hintergründe aus der Redaktion. Diesmal berichtet Alexander Fanta von seinem Alltag in Brüssel und gibt Einblicke in die Arbeitsweise der EU: Liebesgrüße aus Brüssel.

In der aktuellen Ausgabe unseres Werkstatt-Podcasts Off The Record diskutieren wir mit unserem EU-Korrespondenten Alexander Fanta darüber, was Harry Potter uns über die EU-Institutionen verraten kann und wie Corona den Journalismus in Brüssel verändert.

Kurze Pausenmusik:

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Was sonst noch passierte:

Die taz hat eine weitere große Recherche zur Frage veröffentlicht, „Wer steckt hinter „NSU 2.0“? Diese führte sie bis zur Haustür eines Polizisten.

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Hessische Ermittler haben mittlerweile Polizisten in Hamburg und Berlin wegen Abrufe von Meldedaten im Zusammenhang mit den „NSU 2.0“ – Drohbriefen befragt, wie Tagesschau.de berichtet: Polizisten in Hamburg und Berlin befragt.

Ein Polizist in Hamm war in einer rechtsextremen Reichsbürger-Gruppierung namens „Gruppe S.“ aktiv, die sich auch mit Waffen aufgerüstet haben. Kollegen des Polizisten wollen zwar Reichsbürger-Aufkleber, Thor Steinar-Pullover und entsprechende politische Meinungsäußerungen mitbekommen habe , aber disziplinarisch haben sie nichts unternommen. Das Rechercheteam aus SZ und WDR hat Details dazu: Auf dem rechten Auge blind?

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Der Verschwörungskult QAnon ist jetzt auch in der TV-Berichterstattung angekommen. 3Sat Kulturzeit hat eine gute Einordnung: QAnon – das gefährliche Spiel mit der Fiktion. Und WDR Westpol berichtet über Anhänger:innen in NRW: Gefahr durch Verschwörungsmythen. Und Bericht aus Berlin in der ARD hat die Nachwirkungen der Hygiene-Demo in Berlin untersucht: QAnon-Anhänger finden Anschluss bei Corona-Demos.

In seiner aktuellen Spiegel-Online-Kolume thematisiert Christian Stöcker die Verbindung von Corona und QAnon: Das Unbehagen der deutschen Nazis. In dem Beitrag finden sich auch einige interessante weiterführende Links.

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Fahrradfahren in Berlin wird immer gefährlicher. Es gibt immer mehr tödliche Unfälle und die Infrastruktur ist auf Autos ausgelegt, aber nicht auf die immer größer werdende Zahl an Fahrradfahrern. Gerade in diesem Jahr hat die Zahl nochmal massiv zugelegt, auch wegen Corona. Verschiedene Bezirke haben dafür „Pop-Up-Fahrradwege“ eingerichtet, das heißt, an bestimmten großen Straßen wurde eine Autospur für Fahrradfahrer abgetrennt. Das wurde jetzt leider aufgrund des Eilantrages eines AfD-Politikers für rechtswidrig erklärt, weil der Senat das nicht ausreichend begründet habe und eine Pandemie wie Corona leider keine ausreichende Begründung dafür darstellt.

Ich drücke die Daumen, dass das mit einer besseren Begründung weiterlaufen kann. Gerade auf den großen Straßen ist Fahrradfahren kein Spaß und ein erhöhtes Risiko, weil es häufig gar keine Fahrradwege gibt und nicht alle Autofahrer rücksichtsvoll im Straßenverkehr agieren, aber stärker gepanzert sind.

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In Solingen hat eine Mutter fünf ihrer Kinder getötet, der älteste Sohn hat überlebt. Dieser sendete per Whatspp einem Freund seine Gedanken und die landete erst in der Bild und dann bei RTL. Das wirft viele ethische und moralische Fragen auf. Das Bildblog ordnet das ein: “Bild” zeigt private WhatsApp-Nachrichten eines Kindes, dessen Geschwister gerade getötet wurden. Deutlich wird auch der Journalismus-Professor Tanjev Schultz in einem Gastbeitrag bei T-Online.de: Eine Schande für den Journalismus. Er argumentiert: „Selbst wenn etwas juristisch nicht beanstandet werden kann – es gibt Dinge, die tut man nicht. Man braucht nicht in den Feinheiten der Ethik bewandert zu sein, um zu begreifen, dass Kinder nicht für die Berichterstattung instrumentalisiert werden dürfen.“

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Die taz ist wieder Vorreiterin und hat sich eine klimagerechte Sprache gegeben. Dabei möchte man zukünftig darauf achten, sensibler die richtigen Wörter zu verwenden, statt dem Wort „Klimawandel“ lieber „Klimakrise“ zu verwenden, weil ersteres ein Kampfbegriff ist, der von der Lobby der Klimaskeptiker geprägt wurde. Neue Empfehlungen für die taz: Besser übers Klima schreiben.

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Dazu passt auch ein offener Brief diverser Journalist:innen, die sich an andere Medien wenden: Journalist:innen, nehmt die Klimakrise endlich ernst!

Video des Tages: Rosen für den Staatsanwalt

Der Film „Rosen für den Staatsanwalt“ beschreibt eine Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg, in der sich Opfer und Täter der Nazi-Herrschaft wiedertreffen.

Fundstück einer späteren BRD-Gesellschaft: Luke Skywalker-Darsteller Mark Hamill war 1980 zu Besuch im deutschen Fernsehen. Davon gibt es noch einen schlechten Mitschnitt, der irritiert und dennoch Spaß macht.

Netzpolitik-Jobs

Ich bekomme regelmäßig Job-Angebote im netzpolitischen Bereich zugeschickt und dachte mir, dass eine zusätzliche Rubrik ein guter Service sein könnte. Zweimal die Woche werde ich zukünftig auf aktuelle Job-Angebote hinweisen.

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Die Free Software Foundation Europe setzt sich für die Förderung von Freier Software (im Volksmund auch Open-Source genannt) ein. Für ihr Team in Berlin, das drei Türen weiter neben unserem Büro auf derselben Etage sitzt, sucht die FSFE jetzt eine Büroassistenz.

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Wer sich für Netzpolitik in Österreich interessiert, kommt an epicenter.works nicht vorbei. Die kleine NGO sucht jetzt eine/n Communications- und Campaigner:in mit Arbeitssitz in Wien.

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Der European Artificial Intelligence Fund ist ein Zusammenschluss verschiedener Stiftungen, die eine gemeinwohlorientierte Debatte um „Künstliche Intelligenz“ und algorithmische Entscheidungssysteme fördern wollen. Für die Verteilung von derzeit zwei Millionen Dollar im Jahr wird ein:e Programm-Manager:in (am liebsten in Brüssel) gesucht.

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Der Digital Freedom Fund ist ein weiterer Zusammenschluss verschiedener Stiftungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen bei strategischen Prozessführungen finanziell unterstützt und vernetzt. Dafür wird ein Operations Officer für das Büro in Berlin gesucht. Das ist weitgehend Reise- und Eventmanagement.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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