[bits] Und alle so yeah

Hallo,

am vergangenen Donnerstag Nachmittag hat der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition ein Gesetz zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität beschlossen. Etwa zeitgleich twitterte der CSU-Parteiaccount eine Bild-Collage samt dem Gesicht und Namen der freien Taz-Journalist:in Hengameh Yaghoobifarah, die eine umstrittene Satire-Kolumne über die Polizei geschrieben hatte. Mit dem Tweet, der alle gängigen Triggerwörter für eine Hass-Kampagne enthielt, „markierte“ eine Regierungspartei eine Journalist:in, die einen Text geschrieben hatte, der der CSU nicht gefiel.

Und mit der „Markierung“ wurde dann das Ziel vorgegeben und ein weiterer Mob schimpfte und bedrohte die freie Journalist:in, die zu dem Zeitpunkt schon unter Beschuss der rechten und ganze rechten Medienblase stand. Das war schon erbärmlich und der von der CSU praktizierte Trump-Stil lässt schlimmes für den nahenden Online-Wahlkampf vorahnen. Auch wenn man den Tweet halbherzig zurückziehen musste.

Ich hielt das schon für den Höhepunkt dieser Kampagne. Aber gestern ging noch mehr, wieder mit CSU-Inhalt. Die Bild-Zeitung vermeldete gestern Abend, dass Innenminister Horst Seehofer eine Strafanzeige aus seinem Amt heraus gegen Yaghoobifarah machen werde. Seitdem ist aus einer umstrittenen Kolumne einer kleinen Tageszeitung ein Politikum geworden, weil das klar als Einschüchterungsversuch und damit Bedrohung der Pressefreiheit interpretiert werden kann.

Unsere erste Reaktion war dieser Inhalt als Tweet:

„Die angedrohte Strafanzeige von #Seehofer gegen @habibitus ist eine unfassbare Eskalation und ein Angriff auf die #Pressefreiheit. Ein Innenminister, der aus politischem Kalkül ein*e Journalist*in anzeigt, weil ihm eine satirische Kolumne missfällt, überschreitet eine Grenze.“

Heute ging es dann weiter. Ein Hin und Her, ob Seehofer jetzt Anzeige erstattet und weswegen. Oder doch nicht. Und wie Angela Merkel dazu steht, dass ihr Innenminister eine kritische Journalist:in über die Bild-Zeitung bedroht (immer noch unklar).

Noch immer ist nicht ganz klar, was die CSU, was Bild und was Horst Seehofer damit bezwecken. Ein Motiv scheint klar: Ausgehend von den „Black lives matter“-Protesten in den USA gibt es auch bei uns eine Debatte über strukturellen Rassismus bei Sicherheitsbehörden wie der Polizei. Das thematisierte die Kolumne von Yaghoobifarah. Ob das gelungen war oder nicht, darüber kann man sich streiten. Aber das Thema und generell Kritik an der Polizei ist in Deutschland ein Tabu-Thema. Die Polizei ist heilig, auch wenn die Polizei-Forschung neutral darauf hinweist, dass es diese Probleme inklusive Korpsgeist gibt und dass viele Menschen mit Migrationshintergrund negative Erfahrungen aufgrund von Racial Profiling erleben.

Und dann gab es noch die Ausschreitungen in Stuttgart, für die dann auch die Kolumne von Yaghoobifarah mitverantwortlich gemacht wurde. Absurder geht’s nimmer. Darauf kommt man wohl nur, wenn man sich den ganzen Tag Bild-Nachrichten durchliest. Ich stelle mir gerade vor, wie die vielen „erlebnisorientierten Jugendliche“ (aka „Die Partyszene“) vor den Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt sitzen, Bier trinken und versuchen, eine taz zu lesen. Und dann Barrikaden errichten wollen.

Die Taz tat sich bis gestern schwer damit, das Vermächtnis dieser Kolumne zu verwalten. In der Samstagsausgabe gab es einige Beiträge, die eher auf Distanz gingen. Binnenpluralität ist gut und notwendig. Aber man hatte auch angesichts der aufgebrachten Debatte das Gefühl, dass es zu viel Distanz war.

Bei mir kommen auch Erinnerungen hoch, wie zwischen Weihnachten und Sylvester die Debatte um ein Satire-Lied im WDR eskalierte. Auch hier hatten wir rechte und rechtsextreme Kreise, die das zur Mobilmachung nutzten und über eine mediale Öffentlichkeit eine vollkommen absurde Debatte beförderten. Und wir hatten den WDR-Intendanten Tom Buhrow, der sich (diplomatisch gesagt) ungeschickt verhielt und sich nicht vor seine freien Mitarbeiter:innen stellte, die für das Lied verantwortlich waren.

Spätestens mit der angekündigten Strafanzeige dürften sich die Reihen der taz geschlossen haben. Hoffe ich zumindest.

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Heute auf netzpolitik.org:

Markus Reuter kommentiert Seehofers Nebelkerze:

Die aufgeblasene Debatte um eine Kolumne in der taz wird spätestens mit der angekündigten Strafanzeige des Innenministers zu einem Angriff auf die Pressefreiheit. Ihm scheint jedes Mittel recht, um die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt zu beenden.

Constanze Kurz und Frank Rieger fordern europäische Förderungswerkzeuge für Verschlüsselung und Anonymität: Jetzt sind Deutschland und Europa in der Verantwortung

Ein Großteil der Finanzierung von Projekten für die technische Durchsetzung von digitalen Freiheitsrechten droht durch die Trump-Regierung wegzubrechen. Es ist jetzt an der Zeit, dass Deutschland und Europa in die Bresche springen und das Entwicklungsökosystem ausreichend und dauerhaft finanzieren. Ein Kommentar.

Alexander Fanta berichtet über einen Offenen Brief von Lobbycontrol: Google soll sein Netzwerk offenlegen

Google lobbyiert in Brüssel und Berlin mit Hilfe eines Dickichts an Thinktanks und Verbänden. Der Konzern soll eine Liste aller Organisationen veröffentlichen, die er finanziert, fordert LobbyControl.

Zusammen mit Julia Barthel hab ich zwei Administrator:innen von Freifunk München interviewt, die in der Coronakrise ehrenamtlich eine der größten offenen Videokonferenzplattform in Europa mit der Open-Source-Software Jitsi aufgebaut haben: München spricht online.

Schulen oder Vereinen eine Videoplattform zur Verfügung zu stellen, um sich auch in Zeiten der Corona-Pandemie online zu treffen – was viele Institutionen nicht leisten können, machen zwei Münchener Freifunker:innen in ihrer Freizeit. Mit finanzieller Unterstützung von Sponsoren betreiben sie eine Jitsi-Infrastruktur, die bis zu 1.700 Menschen gleichzeitig in Videokonferenzen zusammenbringt.

Was sonst noch passierte:

Bei den Riffreportern schreibt Christiane Schulzki-​Haddout über Commons-​Projekte, die den Weg in eine Gemeinwohl-​orientierte Wirtschaft weisen. Mit viel Open Source. Aber ohne viel Förderung.

Amnesty International hat aufgedeckt, dass der marokkanische Journalist Omar Radi offensichtlich mithilfe einer israelischen Überwachungssoftware ausgespäht wurde: Journalist mit „Pegasus“ ausgespäht? Hier ist der Originalbericht: NSO Group spyware used against Moroccan journalist days after company pledged to respect human rights.

Ich freue mich schon lange auf das neue Buch der Berliner Thriller-Autorin Zoë Beck, „Paradise City“. Ich mag die Geschichten von Zoe Beck, die auch immer viele netzpolitische Fragestellungen unterbringt. Das Buch ist ungewöhnlich aktuell, weil es auch um Gesundheitsapps geht. Der Spiegel hat sie dazu interviewt: „Ich habe nur weitergedacht, was man heute schon sehen kann“.

Die Taz hat den Aktivisten Raul Krauthausen interviewt, der sich für die Interessen und Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt. In dem Interview geht es um Mediennarrative, aber auch um Stereotype, die wir oftmals unbewusst verwenden und die wir alle mehr reflektieren sollten: „Die Sprache ist paternalistisch“.

Der Militärische Abschirmdienst hat wieder einen Skandal, weil man die vielen Nazis in der Bundeswehr nicht gefunden hat und sich von außen darauf aufmerksam machen musste. Das stellt die Frage, warum wir uns diesen Geheimdienst überhaupt leisten, der offensichtlich unfähig für seine eigentliche Aufgabe ist. Die Süddeutsche Zeitung beschreibt eine „Götterdämmerung“ für den MAD.

In den USA hat Donald Trump seine erste analoge Wahlkampfrede in der Coronakrise vor leeren Rängen gehalten. Es gab zwar sehr viele Ticketanfragen, aber anscheinend standen dahinter viele Aktivist:innen und Netz-Communites, die einfach mal koordiniert Freitickets geklickt und nich tgenutzt haben. Trump träumte von einer riesigen vollen Halle. Und jetzt lachen alle anderen. Dirk von Gehlen sieht darin ein „Lehrstück in digitaler Öffentlichkeit: wie Teile der amerikanischen Jugend Trump ärgern„.

Alles begann mit einem Spiel. Schade, dass es bis heute keine emulierte Version von „Space Travel“ gibt, das den Anstoß für die Entwicklung dessen gab, das wir heute als Unix kennen. Auch, ob Unics zunächst eine Anspielung auf Uniplexed oder auf Eunuchs sein sollte, bleibt schleierhaft. Aber der „rosige Schimmer“ der Erinnerung an die Anfangszeit kommt trotzdem auf. Was für ein Glück, dass zwei junge Programmierer damals allen Umständen getrotzt haben. Und nach B auch C gesagt haben.

Wer sich schon immer mal gefragt hat, wie Werbetreibende an die eigenen Daten kommen, obwohl man nie mit ihnen zu tun hatte, denen sei dieser ausführliche Text ans Herz gelegt. Privacy International ist dem Mysterium nachgegangen und hat sich mit Anfragen und viel Geduld zu (teils wenig befriedigenden) Antworten gekämpft. Dabei bekommen sie es auch mit Volkswagen und Dr. Oetker zu tun. Und stellen am Ende fest: Es muss sich dringend etwas ändern, denn die intransparenten Werbe-Daten-Wege sind für Nutzer:innen kaum nachvollziehbar.

In der Coronapandemie setzen Youtube, Facebook und Twitter verstärkt auf automatisierte Moderation von Inhalten statt menschlicher Arbeitskraft. Die Filtersoftware sorgt nun vielfach dafür, dass Videos von den Plattformen fälschlicherweise als „Terrorpropaganda“ entfernt werden, die mögliche Kriegsverbrechen im syrischen Bürgerkrieg dokumentieren. Das beklagen Vertreter des Syrian Archive, einer NGO, die gezielt Videomaterial aus Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Osten dokumentiert. Das Beispiel macht einmal mehr deutlich, wie unzulänglich automatischer Filtersysteme bei der Moderation von Inhalten sind und wie groß die Gefahr für die Freiheit von Meinung und Ausdruck ist, sich in zu großem Maße auf sie zu verlassen.

Bodycams gelten immer als Wunderwaffe der Polizei, die zu weniger Gewalt und mehr Beweisen führen soll. In der Praxis sieht das leider anders aus: We spent a fortune on police body cams. Why haven’t they fixed policing?

Die sympathische Berliner Datenschutz-Electro-Punk-Band Systemabsturz hat ein neues Lied veröffentlicht. Dabei handelt es sich mit „Und alle so yeah“ um ein Cover von der Schweizer Electro-Punk-Band Saalschutz. Zu finden gibt es den Song auf Streaming-Plattformen und bei Soundcloud. „Und alle wollen wissen: Gibt es davon noch mehr?“ Demnächst!

Nach dem Rezo-Video „Die Zerstörung der Presse“ mit massiver Kritik an der FAZ (die ich nachvollziehen kann, weil ich von Seiten der Politikredaktion dort schon vergleichbares an der eigenen Person erleben durfte) gab es ein bemühtes „Reaction-Video“ der FAZ. Ich hab das aus beruflichen Gründen gerade so zu Ende schauen können, ohne einzuschlafen. Einzelne Punkte hatten sie, dafür hätte man aber keine 30-Minuten Video benötigt, aber vielleicht wollte man das Format auch einfach mal ausprobieren. Deutlich unterhaltsamer ist das Reaction-Reaction-Video „Die dümmsten und lustigsten Reaktionen“ von Rezo auf die neuen FAZ-Vorwürfe. Das gibts auf Youtube. Bitte, FAZ, bitte nicht nochmal ein Reaction-Video jetzt darauf, das sich alle Menschen anschauen müssen, die sich mit Medienkritik beschäftigen.

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Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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