Hallo,
eine der ewigen Gesetzmäßigkeiten der Überwachungsdebatte lautet: Wenn irgendwas passiert, wofür es eine politische Verantwortung geben könnte, weil man Sachen versäumt hat, fordert die CDU/CSU einfach die Vorratsdatenspeicherung. Mittlerweile auch in Kombination mit dem Staatstrojaner. Das ist immer ein gutes Ablenkungsmanöver.
Jetzt gibt es das wieder als Antwort auf das Fotoshooting mit Reichsfahnen auf den Treppen des Reichstages am vergangenen Samstag. Weil unsere Sicherheitsbehörden davon und der starken rechtsextremen Mobilisierung angeblich überrascht wurden.
Die Vorratsdatenspeicherung macht hier natürlich überhaupt keinen Sinn. Das hindert aber zahlreiche Medien nicht daran, die vollkommen evidenzfreie Forderung unkommentiert und ohne jegliche Einordnung zu wiederholen.
Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen und Journalist:innen haben sehr genau und schon lange vor der Demonstration – und das vollkommen ohne Überwachungsmaßnahmen wie der Vorratsdatenspeicherung – beobachten können, dass die komplette rechtsextreme Szene nach Berlin mobilisiert. Es ist seit Jahren ein Traum der Rechtsradikalen den Reichstag zu stürmen. Die Demo wurde sogar als #SturmAufBerlin beworben, der Hashtag trendete und im Netz kursierten zahlreiche öffentliche Aufrufe, das Parlament zu stürmen.
Und auch während der Demo waren die Dynamiken, Taktiken und die Aufrufe offen zugänglich, wenn man sich nur die Mühe machte, den richtigen Accounts auf Twitter, Facebook, Telegram und den Livestreams auf Youtube zu folgen.
Um so eine rechtsradikale Aktion vor dem Bundestag zu verhindern, braucht es keine Vorratsdatenspeicherung, sondern einen Sicherheitsapparat der 1 + 1 zusammenzählen kann und daraus dann die richtigen Schlüsse zieht. Diese müssen sich dann auch in Polizeitaktiken widerspiegeln. Dies geht in der Debatte um die Nazi-Fahnen vor dem Parlament vollkommen unter.
Es ist doch absurd, wenn unterfinanzierte oder ehrenamtliche zivilgesellschaftliche Organisationen aus offenen Quellen mehr über das Agieren und die Strategien der rechtsextremen Akteure mitbekommen und es für den öffentlichen Diskurs dokumentieren, als es die vielen Sicherheitsapparate mit ihren weit gefassten Befugnissen und zahlreichen Beamt:innen angeblich können.
Es gibt deutlich sinnvollere, evidenzbasierte und vor allem grundrechtsfreundlichere Maßnahmen statt einer Vorratsdatenspeicherung:
Dazu gehört eine bessere Ausbildung und Schulung der Polizei in solchen Fragen. Ich kann mir nach all den Nazi-Skandalen leider vorstellen, dass es bei Polizei und Verfassungsschutz ausreichend Personal gibt, dass sich privat in Sachen Nazi-Codes, Symbolen und in den Chatgruppen von Rechtsextremen gut auskennt. Aber genau das sind dann die Beamten, die man nicht dafür heranziehen sollte.
Da müssten andere ran. Aktuell soll das BKA im Rahmen des Halle-Prozesses keine gute Figur machen, weil einige vorgeladene Beamte im Zeugenstand eher ihre fehlende Kompetenz in Netzfragen preisgeben. Hier muss also etwas passieren.
Man hätte auch darauf verzichten können, einen Rechtspopulisten für einige Jahre zum Präsidenten des Verfassungsschutzes zu machen, der dann genau in dieser Richtung eher keine Bedrohung sieht. Das hat sich jetzt zwar etwas geändert, aber die Zeit von Hans-Georg Maaßen ist immer noch nicht aufgearbeitet.
Und nach der vergangenen Querdenker-Demo Anfang August gab es in rechtskonservativen und rechtsradikalen Kreisen das Narrativ, dass die Polizei die Teilnehmerzahlen massiv manipuliert habe, um nicht die „wahren Ausmaße“ zu kommunizieren. Das war eine klassische Verschwörungserzählung und bei der Amtsübernahme von Donald Trump abgeschaut.
Das hinderte den Vize-Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Arnold Vaatz, nicht, dieses Narrativ auf der neurechten Scharnierplattform Tichys Einblick zu wiederholen. Und dabei das Agieren der Berliner Polizei mit DDR-Medien und der Stasi zu vergleichen.
Das war dann selbst Focus-Online zuviel, der von „kruden Verschwörungstheorien“ im Zusammenhang mit Vaatz Text schrieb. Und wenn Focus-Online das schon schreibt, dann sollte das einem zu denken geben.
Ich bin ja immer wieder verwundert, wer in der CDU/CSU in verantwortliche Positionen kommt und da auch bleiben kann. Die gleichen Personen schreiben dann wohl auch die Forderungskataloge, wonach die Vorratsdatenspeicherung wegen jedem beliebigen Ereignis eingeführt gehört.
Kleiner Pro-Tipp an die CDU/CSU: Wenn Ihr tatsächlich etwas gegen rechtsextreme Tendenzen machen wollt, dann steigt nicht zu den Rechtsradikalen ins Bett und grenzt Euch klar ab. Es könnte so einfach sein, die Vorratsdatenspeicherung braucht es für diese demokratische Abgrenzung übrigens auch nicht.
Neues auf netzpolitik.org:
Welche Strategien gibt es gegen Terrorismus im Netz und welche möglichen Nebenwirkungen gibt es dabei? Das Thema verfolgen wir schon lange, Tomas Rudl hat aktuell wieder einen guten Grundlagenartikel geschrieben, der in das Thema einführt: Eine Datenbank soll’s richten.
Uploadfilter samt einer zentralisierten Datenbank sollen terroristische und extremistische Inhalte aus dem Internet fegen. Eingerichtet nach Druck von Regierungen, aber betrieben von großen IT-Konzernen, könnte der Ansatz maßgeblich darüber entscheiden, was künftig im Netz gesagt werden darf.
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Jana Ballweber berichtet über „Gesundheitsministerium startet eigenes Informationsportal“:
Online schnell und einfach gesicherte Informationen zu Gesundheitsthemen bereitstellen: Das verspricht das Nationale Gesundheitsportal aus dem Hause Spahn. Doch die heute gestartete erste Version lässt Fragen der Unabhängigkeit offen.
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Was sonst noch passierte:
Der Medientheoretiker und Autor Douglas Rushkoff reflektiert das Leben in der Corona-Pandemie: „The Privileged Have Entered Their Escape Pods – Technology gave us the dream of a cocooned future. Now we’re living it.“ Vor zwei Jahren schrieb Rushkoff das Essay „Survival of the Richest – The wealthy are plotting to leave us behind„, in dem er Strategien und Gedankenexperimente von Prepper-Milliardären beschrieb, die sich auf Weltuntergangsszenarien, Klimakrise, Pandemien, Zombie-Apokalypsen oder einfach nur Aufstände aufgrund von sozialen Kämpfen vorbereiteten. Das ist übrigens gar nicht so einfach: Alleine die Frage, wer fliegt denn das Flugzeug, wenn man in einer Katastrophe in seinen Bunker nach Neuseeland flüchten muss und muss man dann auch noch die Familie eines Piloten mitnehmen, dann das führt zu leichter Überforderung.
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Die ARD-Tagesthemen haben jetzt „Meinungen“ und keine „Kommentare“ mehr. Mit dem Begriff „Meinung“ soll auch deutlich gemacht werden, dass hier eine Einzelperson ihre Meinung artikuliert und nicht die gesamte Redaktion dahinter steht. Ob das bei den Rezipienten auch so ankommen wird? Ich fürchte ja, auch mangels Medien- und Digitalkompetenzvermittlung dürften viele Zuschauende weiterhin nicht so genau wissen, wie Nachrichtensendungen entstehen und was der Unterschied zwischen Meinung/Kommentar und einem journalistischen Beitrag ist. Und das ist eine gesellschaftliche Herausforderung.
Die Journalismus-Professorin Beatrice Dernbach wurde dazu vom Deutschlandfunk-Medienmagazin Medias Res interviewt: Der Kommentar – ein unverstandenes Format? Ein Problem ist, dass viele Menschen in sozialen Medien ihre News zugespielt bekommen und dort nichtmehr zwischen Sachinformationen und Meinung unterscheiden können.
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Am Wochenende wunderten sich viele Beobachter:innen der Querdenken-Demo, wo die ganzen Esoteriker:innen und mutmaßlichen Friedens-Hippies herkamen und warum diese Seite an Seite mit Nazis demonstrierten, wobei die Teilnehmenden selbst gar keine Nazis gesehen haben wollten. Eine sehr gute Analyse gibt es von Annika Brockschmidt bei Zeit-Online (leider nur für Abonnenten): Sind das jetzt alles Nazis? Sie erklärt, dass es schon lange große Überschneidungen zwischen Esoterikern und Rechtsextremen gab. Das geht bis ins 19. Jahrhundert zurück, auch Rudolf Steiner spielte da eine größere Rolle und ebenfalls zu Gründungszeiten mussten sich die Grünen mit ähnlichen Gruppierungen auseinandersetzen.
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Auch der Tagesspiegel geht auf die Vermischung von Esoterik und Extremismus ein und macht einen „Streifzug durch die Literatur“: Geister, die sie rufen.
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Auch bei CNN gab es einen Bericht über die Demo mit einem Schwerpunkt auf die QAnon-Verchwörungsideologen. Dass es auch bei uns viele Verrückte gibt, die an sowas glauben, führte bei den CNN-Journalisten zu Erstaunen, wenn befragte Demo-Teilnehmer erklärten, dass Donald Trump ein Engel sei oder Angela Merkel Adolf Hitlers Tochter. Letzteres ist rechnerisch alleine schon nicht möglich, aber Logik ist häufig eh überschätzt. Der Beitrag ist auf der einen Seite echt lustig, aber dann auch wieder traurig, weil da ist ja nicht ein Karneval beschrieben, sondern eine Demonstration.
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Viele Menschen tun sich immer noch schwer, Schwarz-Weiß-Rote Fahnen als das zu erkennen, was sie sind: Rechtsextreme Reichsflaggen, die eine Ablehnung der Demokratie symbolisieren. Beim Volksverpetzer-Blog gibt es eine Einführung in die Thematik mit etwas geschichtlichen Hintergrund.
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Frontal21 im ZDF stellt verschiedene rechtsextreme Akteure vor, die beim Foto-Shooting mit Fahnen auf der Treppe des Reichstages standen: Ohne rechten Abstand.
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Die Nutzung der Corona-Warn-App stagniert weiter. Momentan sollen rund 50.000 neue Downloads pro Tag dazu kommen. Täglich soll es laut Deutsche Telekom 14 Millionen Server-Abfragen geben, was ein Annäherungswert an die Nutzer:innenzahlen sein kann. Die Herausforderung ist: Wenn mehr mitmachen, macht die App mehr Sinn.
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Konkrete Verbesserungsvorschläge bieten der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und Henning Tillmann vom SPD-nahen Think-Tank D64 in einem Gastbeitrag bei Zeit-Online: Vier Upgrades, die die Corona-Warn-App jetzt braucht. Sie wünschen sich mehr Transparenz und Informationen für die Nutzenden, eine Clustererkennung und ein Kontakt-Tagebuch.
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Die „Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten bei der elektronischen Kommunikation“-Verordnung (Als „E-Privacy“ abgekürzt) sollte mal als „kleine Schwester“ der EU-Datenschutzgrundverordnung mehr Verbraucher- und Datenschutzrechte bringen. Seit Jahren wird das durch Lobbyinteressen blockiert. Die Bundesregierung nutzt jetzt ihre EU-Ratspräsidentschaft, um das Abgreifen von Metadaten ohne Zustimmung der Nutzenden als „legitimes Interesse“ zu verankern: EU-Ministerrat plant verdeckte Datenabgriffe zu legalisieren. Das ist das Gegenteil von „mehr Datenschutz wagen“, aber geht auf die Interessen der Werbe-Lobbys ein.
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Google/Alphabet möchte ins Versicherungsgeschäft einsteigen. Das macht unternehmerisch total Sinn, wenn man eh schon mehr Daten über potentiell Versicherte hat als alle anderen und daraus bessere Prognosen erstellen kann. Aus gesellschaftlicher Sicht ist das alles aber fatal, wie Evgeny Morozov in einem Kommentar in der Financial Times schreibt: The danger of Alphabet’s move into the risk business.
Audio des Tages: Der Drosten-Podcast ist zurück
Die Sommerpause ist vorbei und Christian Drosten war wieder im Corona-Update vom NDR zu hören. In einer Sendung mit Überlänge hat er den Sommer reflektiert. Zukünftig wird er in dem Podcast im wöchentlichen Wechsel mit der Virologin Sandra Ciesek zu aktuellen Entwicklungen befragt.
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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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