[bits] Wenn aus Einzelfällen ein strukturelles Problem wird

Hallo,

aus den rechtsextremen „Einzelfällen“ bei Polizeibeamt:innen werden täglich mehr, die belegen, dass wir es mit strukturellen Problemen in unseren Sicherheitsbehörden zu tun haben. Denn bislang fliegen die rechten Netzwerke immer nur per Zufall auf. Das weist darauf hin, dass es ein großes Dunkelfeld geben könnte, das weiterhin unbehelligt agiert.

Diese Anzeichen gibt es schon lange, aber bisher verhindern Polizeigewerkschaften und viele verantwortliche Politiker:innen eine Debatte darüber, was jetzt zur Lösung des offensichtlicher werdenden Problems getan werden müsste.

Aktuell gibt es einen neuen Skandal in Nordrhein-Westfalen, wo gestern die Wohnräume von 29 Polizist:innen durchsucht wurden, die alle in einer Chatgruppe waren und fleißig rechtsextreme Propaganda geteilt haben. Der NRW-Innenminister Herbert Reul hatte bisher immer Aufklärung und Reformen in diese Richtung für nicht notwendig gehalten und rudert jetzt herum.

Ein Problem ist der vorherrschende Korpsgeist, der verhindert, dass sich Kolleg:innen aktiv abgrenzen. Es fehlen unabhängige Strukturen für Whistleblower:innen, die geschützt auf Probleme hinweisen können. Es fehlen unabhängige Institutionen, welche die Polizei kontrollieren. Und dann scheint der Wille zu fehlen, bei den bisher gemeldeten Fällen auch hart durchzugreifen. Denn häufig kam nach den „Einzelfällen“ heraus: Die betroffenen Personen waren den Strukturen schon bekannt. So auch gestern.

In der Süddeutschen Zeitung kommentiert Ronen Steinke passend, dass das Disziplinarrecht für Polizeibeamt:innen Entlassungen erschweren würde: Keine zweite Chance. Er argumentiert, dass man sich Regeln aus der Privatwirtschaft zum Vorbild nehmen sollte: „Wer die eigene Firma bestiehlt, kann fristlos entlassen werden.“ Bei den aktuellen Skandalen gehen es um „zerstörtes Vertrauen“ in unsere Polizeibehörden. „Für Staatsdiener sollten mindestens dieselben hohen Standards gelten.“

Das sehe ich genauso. Aber wir müssen auch mehr darüber lernen, wie weit verfassungsfeindliche Einstellungen in unseren Sicherheitsbehörden verbreitet sind, die für die Einhaltung und Durchsetzung der Verfassung von uns bezahlt werden. Dazu braucht es unabhängige wissenschaftliche Studien. Diese wurden bisher von den Polizeigewerkschaften und vor allem konservativen Politiker:innen vehement abgelehnt. Das muss sich jetzt ändern.

Neues auf netzpolitik.org:

Constanze Kurz hat ein Interview zu den politischen Hürden für Seenotretter gemacht: „Die Diskursverschiebung gegen Seenotrettung hat Menschenleben gekostet“.

Crew-Mitgliedern drohen Gefängnis und horrende Geldstrafen: Wer Menschen aus dem Meer rettet, wird überwacht und rechtlich verfolgt. Im Interview sprechen wir mit Hendrik Simon über politische Hürden für Seenotretter, über die Diskursverschiebung und die Schuld der europäischen Regierungen daran und über eine neue Webseite zum Fall des Schiffes „Iuventa“.

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Matthias Monroy berichtet über QROC: EU-Polizeien planen neues Informationssystem.

Europäische Polizeibehörden verfügen über zahlreiche Anwendungen zur Kommunikation und zum Informationsaustausch. Die Mitgliedstaaten entwickeln nun eine weitere Plattform für polizeiliche Großlagen und terroristische Anschläge. Über ein ähnliches System verfügen auch die europäischen Inlandsgeheimdienste.

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Charlotte Pekel hat zur Handy-Nutzung in Hamburger Justizvollzugsanstalten recherchiert – und gibt einen Einblick in eine für viele unbekannte Welt: Gefangene wehren sich gegen Wegnahme von Handys.

Als einziges Bundesland hatte Hamburg Gefangenen einfache Mobiltelefone gestattet, damit sie trotz Corona-bedingter Besuchsverbote Kontakt zu Angehörigen halten können. Jetzt will die Justizbehörde die Handys wieder einziehen. Nicht nur die Gefangenen halten das für falsch.

Kurze Pausenmusik:

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Was sonst noch passierte:

Einen aktuellen Stand der festgefahrenen Debatte um eine mögliche „Smart City“ und eine Digitalisierungsstrategie für Berlin hat die taz aufgeschrieben: Wie schlau ist Berlin? Ich fürchte, dass bis zur Abgeordnetenhauswahl im kommenden Jahr nicht viel mehr passieren wird.

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Mehr Hintergrund zur Werbeindustrie: Torsten Kleinz erklärt in Teil 2 seiner Reihe „Der Kampf um die Cookies“ auf iRights.info: „Wie sich die Tracking-Industrie entwickelt“.

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Die Anhörungen zu einer möglichen Auslieferung von Julian Assange laufen in London weiter. Gestern wurden der NDR-Investigativjournalist John Goetz und der Pentagon Papers Journalist Daniel Ellsberg angehört. Dustin Hoffmann ist Büroleiter des Satirikers Martin Hoffmann im Europaparlament und berichtet aus London vor Ort. In einem langen Twitter-Thread hat er die gestrige Sitzung aufgeschrieben und dazu gibt es Zusammenfassung auf Youtube. NDR-Zapp hat sich mit widerlegten Vorwürfen gegen Assange auseinandergesetzt, die von Medien weitergetragen und von der USA-Anklage genutzt werden: Entkräftet – Verschwörungsberichte über Julian Assange.

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Der Tagesspiegel bietet einen kleinen Überblick, wie verschiedene Bühnen in Berlin mit Corona umgehen und welche Strategien es dort gibt: Wahl der Qual. Üblich sind 1,5 Meter Abstand, das lässt sehr viel Platz. Positiv finde ich den Pierre Boulez Saal, der ein Schachbrett-Prinzip nutzt und FFP2-Masken austeilt und die Pflicht zum Tragen eingeführt hat.

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Das Robert Koch-Institut informierte heute über „Höchster Wert bei Neuinfektionen seit April“. Gesundheitsämter meldeten gestern 2194 neue Corona-Infektionen, davon waren 130 aus Berlin. Aktuell gibt es noch keinen Grund zur Panik, weil im April viel weniger getestet wurde und die Reproduktionszahl aktuell bei 1 liegt. Aber nach Entspannung und Freiheit klingt der Anstieg der gemeldeten Infizierten auch nicht.

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Das ZDF zieht eine Drei-Monats-Bilanz der Corona-Warn-App. Für bits-Leser:innen nichts Neues, aber aktuell zusammengefasst: 18 Millionen sind nicht genug. Immerhin besser als nichts, aber mit viel Luft nach oben.

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Am Anfang dieser Woche war eine US-amerikanische Superspreaderin in Garmisch-Partenkirchen eine Top-Meldung in vielen Medien. Politiker:innen überboten sich in Forderungen und Rhetorik. Der Faktenfinder von Tagesschau.de hat sich die Geschichte angeschaut und kaum Belege für viele Behauptungen gefunden. Die angebliche Superspreaderin habe wohl keine ausgedehnte Kneipentour gemacht und war wohl nur in einem Speiselokal, wo sie möglicherweise eine Person angesteckt habe. Die ganze Geschichte: Die angebliche Superspreaderin von Garmisch.

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Eine interessante Analyse der Corona-Skeptiker:innen auf den aktuellen Demonstrationen hat das Soziologie-Magazin Hypotheses veröffentlicht: Corona-Skepsis als Rebellion der Individualist*innen. „Was in dieser Bewegung zum Ausdruck kommt, ist die Unfähigkeit der Subjekte, die diese Gesellschaft hervorbringt, solidarisch zu denken und zu handeln.“

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Die Pro7-Entertainer Joko und Klaas haben gestern ihre 15 Minuten zur Prime Time für Aufmerksamkeit auf die Menschen im abgebrannten Geflüchtetenlager in Moria gelegt. Das gibt es auf Youtube zum Nachschauen: A Short Story Of Moria.

Dazu passt auch ein Beitrag von Dana Schmalz auf dem Verfassungsblog. Sie sieht im Umgang mit der Katastrophe in Moria eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention: Am Ende der Kraft.

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Ron Deibert hat im kanadischen Toronto das Citizenlab gegründet, eine Organisation, die zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft angesiedelt ist. Gerade dem Citizenlab haben wir u.a. viel Forschung und Aufklärung darüber zu verdanken, wie Staatstrojaner weltweit gegen Dissidenten eingesetzt werden. Von Ron Deibert erscheint kommende Woche das Buch „Reset – Reclaiming the Internet for Civil Society“. In einem Zoom-Vortrag beim Harvard Carr Center for Human Rights Policy hat er Einblicke in das Buch, seine Thesen und die Arbeit des Citizenlab gegeben.

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Die Satire-Sendung Extra3 auf NDR hat gestern in einem Beitrag den Förder-Irrsinn der Bundesregierung beim Breitbandausbau auf den Punkt gebracht. Das ist lustig und zum heulen zugleich.

Netzpolitik-Jobs

Ich bekomme regelmäßig Job-Angebote im netzpolitischen Bereich zugeschickt und dachte mir, dass eine zusätzliche Rubrik ein guter Service sein könnte. Zweimal die Woche werde ich zukünftig auf aktuelle Job-Angebote hinweisen.

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Wikimedia Deutschland sucht eine/n „Referent für Bildung und Teilhabe in der digitalen Welt“ (m/w/d).

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Und eine zweite Ausschreibung von Wikimedia Deutschland sucht nach „Manager digitale/ offline Events (m/w/d)“.

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Die Deutsche Welle sucht eine/n „Redakteur (w/m/d) für Digitalpolitik“ in Berlin.

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Die Free Software Foundation Europe setzt sich für die Förderung von Freier Software (im Volksmund auch Open-Source genannt) ein. Für ihr Team in Berlin, das drei Türen weiter neben unserem Büro auf derselben Etage sitzt, sucht die FSFE jetzt eine Büroassistenz.

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Wer sich für Netzpolitik in Österreich interessiert, kommt an epicenter.works nicht vorbei. Die kleine NGO sucht jetzt eine/n Communications- und Campaigner:in mit Arbeitssitz in Wien.

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Der Digital Freedom Fund ist ein weiterer Zusammenschluss verschiedener Stiftungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen bei strategischen Prozessführungen finanziell unterstützt und vernetzt. Dafür wird ein Operations Officer für das Büro in Berlin gesucht. Das ist weitgehend Reise- und Eventmanagement.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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