Hallo,
am Wochenende zogen, laut Polizeiangaben, 38.000 Menschen durch Berlin-Mitte, um gegen Corona, Masken, Impfungen und vieles andere zu demonstrieren. Das war eine skurrile Mischung aus Rechtsextremen, Reichsbürger:innen, Esoteriker:innen, Evangelikalen, Verschwörungsideologen, Hare Krishna-Fans, Impfgegner:innen und Menschen, die in Donald Trump einen Friedensengel sehen. Und einen Teil der Demonstrierenden kann man sicher bei allem gleichzeitig einordnen.
Die Mischung und die Masse war für viele immer noch überraschend, aber das ist leider naiv. Was alle eint, ist ein großes Misstrauen gegenüber den Institutionen unserer Demokratie. Das Misstrauen mag, wenn man denn rational argumentieren würde, in vielen Fällen nicht unberechtigt sein, führt aber bei den Corona-Leugner:innen in eine irrationale allgemeine Systemkritik. Dazu kommen Kontrollverlust und Unbehagen aufgrund der unerwarteten Corona-Krise mit all ihren gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen. Befeuert wird das alles durch ein „alternatives“ mediales Ökosystem auf Youtube, Facebook und Telegram mit großen Schnittpunkten zwischen den unterschiedlichen Millieus. Dort bieten Hassprediger:innen, Sektenführer:innen, skurpellose Geschäftemacher:innen und sonstige Menschen mit viel Meinung und Sendungsbewusstsein Ersatz-Realitäten, die teilweise an Kulte erinnern. Dazu gibt es eine millieu-übergreifende Vernetzung, auch weil es mit den Corona-Maßnahmen einen einenden Feind gibt.
Das ist alles nicht neu und man kann das seit Jahren beobachten, zumindest wenn man dazu motiviert ist, weil häufig macht das einfach keinen Spaß. Und logisch ist da vor allem kaum was. Bereits 2014, als Corona noch eine Zukunfts-Dystopie war, gingen einige der aktuellen Wortführer wie KenFM und Compact bei den „Mahnwachen für den Frieden“ als „Querfront“ gemeinsam auf die Straße. Danach kam „Lügenpresse“, „Pizzagate“ und bei den vielen „Widerstand“-Sprüchen am Wochenende musste ich immer an Matthias Matussek denken, wie er vor zwei Jahren in Hamburg auf einer Pegida-Demo auf einem Bierkasten stehend die kleine angetrunkene Menge gegen Angela Merkel und Journalist:innen aufhetzte.
Rückblickend war die „Erstürmung“ der Reichstagstreppen das große mediale Ding. Das wird leider zu einem ikonischen Bild im Gedächtnis der Reichsbürger:innen und Rechtsextremen werden. Ein Youtube-Video zeigt, wie es dazu kam und legt auch offen, wie schlecht aufgestellt die Polizei in diesem Moment war. Die Rednerin, die auf der Bühne zur Erstürmung aufruft und gleichzeitig erklärt, dass Donald Trump nebenan in der US-Botschaft angekommen sei, um anschließend mit ihnen einen Friedensvertrag auszuhandeln, ist die Heilpraktikerin Tamara K. Hier gibt es ein kleines Portrait.
Interessant in dem Kontext der Berichterstattung fand ich folgende Beiträge:
Olaf Sundermeyer bei rbb24: Der Protest wird bleiben, radikal!
Lars Wienand bei t-online.de: Wie kam Impfgegner Robert F. Kennedy nach Deutschland?
Andreas Flammang, Ann-Katrin Müller und Jonas Schaible bei Spiegel: Ach so, ja, Nazis sind auch da.
Die Berliner Zeitung hat ein Gespräch mit Peter Ullrich von der Technischen Universität Berlin über Entfremdung, willkürliche Verbote und extreme Gewaltaufrufe: „Es gibt einen unglaublichen Zorn“.
Christian Bangel bei Zeit-Online: Wenn es doch nur Chaoten wären.
Viele Teilnehmende scheinen wahlweise sehr naiv zu sein, was Symbolik, Fahnen und dergleichen betrifft oder sie nahmen es billigend in Kauf, Seite an Seite mit Demokratiefeinden zu demonstrieren. Wer sich weiterbilden will: Die Belltower-News erklären diverse Codes und Symbole: Ikonographie der Coronaleugner*innen. Und in der Wikipedia gibt es ein „Verzeichnis rechtsextremer Symbole“. Und danach kann man sich diese Bildergalerie über die Demo anschauen.
Wer etwas mehr Hintergründe in Buch-Form zu einem Teil der Akteure lesen möchte, findet bei der Bundeszentrale für politische Bildung „Hasskrieger“ von Karolin Schwarz und „Deutschland rechts außen“ von Matthias Quent für jeweils 4,50 Euro.
Man kann natürlich auch fragen, warum dieser kleine Teil der Gesellschaft soviel mediale Aufmerksamkeit bekommt, auch hier im bits-Newsletter? Ich fürchte, dass das, was da im Netz anwächst, immer noch massiv unterschätzt wird und wir sehr lange damit leben werden müssen. Die radikalisieren sich immer mehr und es gibt darauf noch zu wenig Antworten und vor allem auch viel Ratlosigkeit.
Neues auf netzpolitik.org:
Die EU-Kommission plant gesetzliche Maßnahmen zur Überwachung von Online-Diensten wie Facebook und GMail. Im Visier steht auch die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Messengerdiensten wie WhatsApp und Signal. Alexander Fanta hat einige Details: EU-Kommission plant Durchleuchtungspflicht.
Dienste wie Facebook und GMail will die EU verpflichten, Nachrichten auf möglichen Kindesmissbrauch zu durchleuchten. Die eben gestärkte Vertraulichkeit von Inhalten soll dafür wieder geschwächt werden.
Ich hab mich mit der Krimi-Autorin Zoe Beck über ihre netzpolitsichen Krimis unterhalten. Den Podcast gab es hier vor Wochen schon mal in einer Vorab-Version, jetzt ist er offziell erschienen: Netzpolitische Krimis.
Zoe Beck schreibt Krimis, die netzpolitische Themen einem Massenpublikum vermitteln und auf Bestseller-Listen landen. Im Netzpolitik-Podcast Folge 208 erzählt sie über ihre Motivation und Herangehensweise. Und gibt nebenbei viele Einblicke, wie die Buch-Branche funktioniert.
Kurze Pausenmusik:
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Was sonst noch passierte:
Es hat lange gedauert, aber am Freitagabend hat Facebook das rechtsextreme Verschwörungsmagazin Compact auf seinen Plattformen gesperrt: Facebook nimmt „Compact“ vom Netz. Begründet wurde das mit dem systematischen Angriff auf „Menschen aufgrund von Merkmalen wie Herkunft, Geschlecht und Nationalität“. Warum das erst jetzt aufgefallen ist und durchgegriffen wird, kann ich nicht sagen. Was weiterhin ein Problem ist: Compact gibt es in vielen Zeitschriftenläden und Supermärkten zu kaufen. Hier kann man sich gut bei den jeweiligen Supermarkt-Ketten beschweren, warum solche menschenverachtenden Angebote bei denen überhaupt verkauft werden.
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Direkt daneben einordnen kann man diesen Wall Street Journal – Bericht, der manchmal hinter der Paywall steckt und manchmal nicht: Facebook Executive Supported India’s Modi, Disparaged Opposition in Internal Messages. Die indische Facebook-Politikchefin ist eng mit der nationalistischen Hindu-Partei verbunden und hat diese wohl bei ihrem Aufstieg aus ihrer Position bei Facebook heraus unterstützt.
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Wer sich mal anschauen möchte, wie man im großen Stil Energie verschwendet, kann sich diese Bilderstrecke über eine Bitcoin-Fabrik in Island anschauen, die mittlerweile mehr Energie verbraucht als die Bevölkerung. Glückwunsch, Raketentechnologie: Inside the Icelandic Facility Where Bitcoin Is Mined.
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Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Youtuber Bodo Schiffmann ist einer der führenden Impfgegner in der deutschen (Youtube-)Öffentlichkeit und einer der Köpfe der Hygiene-Demo vom Wochenende. Zeit-Online hat ihn portraitiert und sein Handeln eingeordnet: Der Impfkrieg.
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Bei Klimafakten.de erklärt Sebastian Herrmann, wie man gegenüber Familienmitgliedern besser und faktenorientierter über den Klimawandel diskutieren kann: An der Kaffeetafel mit Wissenschaftsleugnern – Sieben praktische Tipps, um Fakten erfolgreich zu verteidigen.
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Seit Jahren tobt eine Debatte darüber, ob e-Sport gemeinnützig werden kann, ebenso wie Schach oder Fußball. Das ist nicht ganz trivial, es geht um Steuervorteile, Anerkennung und die Frage, inwiefern kommerzielle Veranstaltungen überhaupt gemeinnützig sein können. Bei vielen e-Sport-Veranstaltungen kann man nicht mehr von Gemeinwohl sprechen, das sind Marketingveranstaltungen für kommerzielle Produkte. Aber trotzdem ist das auch Kultur und wo ist der Unterschied zur Fußball-Bundesliga? Alles nicht so einfach, bei der Gamescom wurde darüber diskutiert und die SPD deutete an, dass man zumindest e-Sport die Chance zur Gemeinnützigkeit geben wollen würde, wenn reale Sportarten simuliert werden. Warum dann „Fifa“ gegenüber Age of Empires bevorzugt wird, erschließt sich mir nicht ganz logisch, aber es gibt auch noch keinen Gesetzentwurf.
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Rund 2,7 Millionen Haushalte leben derzeit noch in „grauen Flecken“. Das bedeutet, sie haben eine Internetanbindung von weniger als mindestens 30 MBit/s. Ungeklärt ist, wie viele theoretisch mehr als 30 MBit/s verkauft bekommen haben, die aber noch nie gesehen haben, da sie sich die einzelne LTE-Funkzelle mit vielen Nachbarn und Dörfern teilen oder aber beim Bestellen übers Ohr gezogen wurden. Bei meinem letzten Urlaub hatte das Haus einen 50MBit/s-Vertrag abgeschlossen, faktisch liefen da aber nur 8 MBit/s drüber. Hier könnte der Gesetzgeber Verbraucher:innen besser vor diesen „Bis zu 50 MBit/s“ – Verträgen schützen, macht er aber nicht.
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Der größte Konkurrent von Netflix ist der Schlaf. Das sagte zumindest der Netflix-CEO. Aber gut für Netflix: Da gibt es noch genug Marktanteile zum erobern “We’re competing with sleep, on the margin. And so, it’s a very large pool of time.”
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Die New York Times berichtet über Korruptionsvorwürfe gegen den Präsidenten von Brasilien, Jair Bolsonaro: ‘A Family Business:’ Graft Investigation Threatens Brazil’s Bolsonaro.
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Die AfD möchte Andreas Kalbitz loswerden, weil zuviel Offensichtlich-Nazi-Sein dem eigenen Image schadet. Das ARD-Politikmagazin Kontraste ist verwundert, dass die AfD jetzt vor Gericht mit den eigenen Recherchen argumentiert, wo die Partei die Berichte immer neben „Lügenpresse“ einsortiert habe: Warum der AfD-Politiker plötzlich zu rechtsextrem für die Partei ist.
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Hannah Arendt wird immer beliebter und dient mittlerweile auch für viel als Projektionsfläche, die sich offensichtlich noch nicht ausreichend mit ihrem Werk und Schaffen auseinandergesetzt haben. Der Soziopod-Podcast widmet ihr eine ganze Folge: Hannah Arendt – Vita Activa oder Vom tätigen Leben.
Netzpolitik-Jobs
Ich bekomme regelmäßig Job-Angebote im netzpolitischen Bereich zugeschickt und dachte mir, dass eine zusätzliche Rubrik ein guter Service sein könnte. Zweimal die Woche werde ich zukünftig auf aktuelle Job-Angebote hinweisen.
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Wer sich für Netzpolitik in Österreich interessiert, kommt an epicenter.works nicht vorbei. Die kleine NGO sucht jetzt eine/n Communications- und Campaigner:in mit Arbeitssitz in Wien.
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Der European Artificial Intelligence Fund ist ein Zusammenschluss verschiedener Stiftungen, die eine gemeinwohlorientierte Debatte um „Künstliche Intelligenz“ und algorithmische Entscheidungssysteme fördern wollen. Für die Verteilung von derzeit zwei Millionen Dollar im Jahr wird ein:e Programm-Manager:in (am liebsten in Brüssel) gesucht.
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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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