[bits] Zentral, dezentral, doch nicht egal!

Hallo,

etwas überraschend hat die Bundesregierung am Wochenende bei der Debatte um eine Corona-Contact-Tracing-App eine 180 Grad Kehrtwende eingelegt. Bis zum Samstag wollte vor allem das Bundesgesundheitsministerium eine umstrittene zentrale Speicherung von möglichen Kontakten zur Identifikation von Infektionsketten haben.

Am Wochenende verkündeten dann Kanzleramt und Gesundheitsministerium, dass man diese Pläne aufgeben werde und man sich dem dezentralen Ansatz zuwenden wolle.

Das ist eine bedeutende Entscheidung, denn von Seiten vieler Datenschützer:innen wurde in den vergangenen Wochen angemerkt, dass das Ziel, größtmögliches Vertrauen zu gewinnen, u.a. nur durch eine dezentrale anonyme Speicherung auf dem eigenen Gerät zu erreichen wäre. Dieser Empfehlung folgt jetzt die Bundesregierung und hört ausnahmsweise mal auf die Datenschützer:innen und die digitale Zivilgesellschaft.

Damit könnte auch das bisher präferierte Konsortium PEPP-PT am Ende sein, denen es nicht gelungen ist, bis heute eine funktionierende App zu präsentieren. Und die es auch durch eine miserable Kommunikation geschafft hatten, dass sich Teile des Konsortiums abgespalten hatten, um mit DP3T eine dezentrale Alternative zu entwickeln.

Die Bundesregierung hat bisher auf das falsche Pferd gesetzt und damit hat sich die Entwicklung einer Corona-App für diesen Zweck unnötig verzögert. Es wird noch mindestens ein bis zwei Monate dauern, bis die dezentrale freiwillige App dann für alle zum Download steht. Vielleicht passend zum nächsten Lockdown.

Wer mittlerweile den Überblick über die Debatte rund um Corona-Apps verloren hat oder sich einfach nur informieren möchte: Bei netzpolitik.org gibt es jetzt eine sehr umfangreiche FAQ zu technischen und politischen Aspekten der Debatte: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur digitalen Kontaktverfolgung. Diese FAQ soll laufend aktualisiert werden.

Neues bei netzpolitik.org

Das Landesinnenministerium ließ Daten von Menschen, die unter Quarantäne standen, in einer Fahndungsdatenbank des Landeskriminalamts speichern, darunter auch Kontaktpersonen von Erkrankten. Zuvor hatte die Behörde netzpolitik.org mitgeteilt, die Polizei habe keine Listen mit Coronavirus-Infizierten erhalten. Erst eine parlamentarische Anfrage der Opposition brachte die Übermittlung ans Licht. Die Recherche von Daninel Laufer hat ein Nachspiel im Innenausschuss von Sachsen-Anhalt.

In seiner Reihe „Neues aus dem #Fernsehrat“ hat Leonhard Dobusch über „Öffentlich-rechtliche Medien zwischen Neutralität und Haltung in der Corona-Krise“ gebloggt.

Wissenswertes zur Coronakrise

Möglicherweise gibt es noch weitere Krankheiten, die durch das Coronavirus ausgelöst werden könnten. Bisher konzentrierte sich viel auf die Lungenkrankheit Covid-19. In den USA sehen aber vermehrt Krankenhäuser Schlaganfälle bei jüngeren Patienten: Young and middle-aged people, barely sick with covid-19, are dying of strokes.

Der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit, David Kaye, hat in einem Bericht an die Vereinten Nationen Empfehlungen für die Entwicklung von Corona-Tracing-Apps vorgelegt: Disease pandemics and the freedom of opinion and expression.

Am Wochenende ist wieder eine illustre Runde aus Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und Esoterikern in Berlin auf die Straße gegangen, um gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur zu demonstrieren. Die Volksbühne nutzte ihre Außenwände, um sich von den Inhalten der Demonstrierenden vor ihrer Tür schön zu distanzieren. Vor Ort war ein halbes Who-is-who der üblichen Verschwörungs-Influencern, von Ken Jebsen über den rechtsradikalen „Volkslehrer“ bis zum durchgeknallten Martin Leujene. Ein kurzes Video gibt Einblicke.

Nicht vor Ort war Xavier Naidoo, obwohl er gut in die Runde gepasst hätte. Naidoo rutscht immer weiter nach Rechtsaußen und in Verschwörungsmythen ab, wie der Tagesspiegel berichtet: Der verstörende Absturz des Xavier Naidoo.

Der US-Immunologe Anthony Fauci ist auch bei uns bekannt geworden, weil er immer neben Donald Trump bei dessen peinlichen Pressekonferenzen stehen musste. In einer Hommage an Fauc hat ihn Brad Pitt für Saturday Night Live gespielt und dabei Donald Trump kritisiert. Sehenswert.

In der vergangenen Woche berichtet Stefan Kaufmann im Interview mit netzpolitik.org, dass die Stadt Ulm technische Infrastruktur aufbaut, über die Schulen in der Corona-Krise Videokonferenzen mit dem quelloffenen Tool BigBlueButton abhalten können. In einem neuen Blogbeitrag gewähren Kaufmann und Kolleg:innen jetzt Einblicke in ihr genaues technisches Vorgehen – Nachahmen ist ausdrücklich erwünscht.

Was sonst noch passierte:

Das niederländische Innenministerium kündet an, bei zukünftigen Entscheidungen über nutzende Software grundsätzlich auf freie Lösungen setzen zu wollen. Das gilt für den Einkauf sowie die eigene Entwicklung neuer Anwendungen.

Die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern muss in deutsches Recht übertragen werden. Doch das Bundeswirtschaftsministerium setzt alles daran, den Vorstoß des Justizministeriums zu sabotieren, so Julia Reda in ihrer Kolumne bei Heise-Online: Statt eines einheitlichen Gesetzes, das auch jene Rechtsbereiche abdeckt, in denen die EU-Richtlinie nicht gilt, scheint Altmaier eine Minimallösung zu bevorzugen – doch diese böte keinen wirksamen Schutz für Whistleblower.

Im Weltraum segeln noch ein paar alte und vergessene Militärsatelliten. NPR hat eine schöne Geschichte, wie Funkamateure einen gefunden haben: Long-Lost U.S. Military Satellite Found By Amateur Radio Operator.

Kafkas „Der Prozess“ ist ein Buch, von dem die meisten zumindest schon mal gehört haben. Der Deutschlandfunk beschreibt, warum der Roman ein „Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts“ wurde.

Berlin könnte heute ganz anders aussehen. Fast vergessene Dokumente zeigen, wie erbittert vor 100 Jahren um die Zukunft der Stadt gerungen wurde: Wie Berlin vor 100 Jahren zu der Stadt wurde, die sie ist.

Neben der Coronakrise haben wir es auch noch mit andauernder Dürre zu tun. Die RBB-Abendschau hat ein schönes Beispiel, wie man Bäume vor der Tür notfalls auch aus dem fünften Stock bewässern kann.

Stellenanzeige des Tages

Die Free Software Foundation Europe sucht eine Assistenz der Geschäftsleitung. Einer der vielen Vorteile dieses Jobs ist der, dass unser Büro nur drei Türen weiter auf derselben Etage liegt.

Video des Tages: Die Getriebenen

Der Spielfilm „Die Getriebenen“ in der ARD-Mediathek rekonstruiert die Abläufe innerhalb der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise 2015. Das ist gut gelungen, vor allem durch die Abbildung von politischen Spielen im Hintergrund und durch die Vermittlung der politischen Prozesse.

Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freu mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@np. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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