Wenn Journalisten zu verdächtigen Straftätern werden

Hallo,

gestern hatte ich schon kurz darüber berichtet, dass Journalist:innen im Rahmen einer kurzen Besetzung des Haus der Wirtschaft im Rahmen der Aktionswoche von Extinction Rebellion festgesetzt und Speicherkarten von Kameras zur Beweisaufnahme konfisziert wurden. Die Polizei Berlin berichtete über die Aktion auf Twitter, ohne Bezug zu nehmen, dass unter den festgesetzten Personen auch berichtende Journalist:innen waren.

Neben einem SpiegelTV-Journalisten hat es auch den freien Foto-Journalisten Boris Niehaus getroffen. Wie er mir am Telefon schilderte, waren die Journalisten mit offiziellen Presseausweisen ausgestattet und haben mehrfach auf ihren journalistischen Status hingewiesen. Das schützte sie aber nicht davor, neben den Besetzer:innen ebenfalls festgesetzt, durchsucht und fotografiert zu werden. Der Polizei war es nach telefonischer Rücksprache mit der Generalststaatsanwaltschaft offensichtlich egal, dass Journalist:innen einen besonderen Schutz durch die Pressefreiheit genießen.

Boris Niehaus durfte nicht telefonieren, er konnte seiner Agentur nicht Bescheid geben, für die er von dem Protest berichtete und auch keinen Rechtsbeistand anrufen. Er schilderte mir, dass es „sich nicht schön angefühlt hat, als Straftäter behandelt zu werden, wenn man seine journalistische Arbeit macht“. Für ihn wirkte das Verhalten der Polizei wie ein Einschüchterungsversuch und er konnte seiner Arbeit dann nicht mehr nachgehen. Die Speichermedien liegen jetzt zur Beweisaufnahme bei der Polizei, obwohl es in §97 Strafprozessordnung ein Beschlagnahmeverbot gibt und viele Gerichtsurteile den Wert der Pressefreiheit in solchen Fällen klar herausgestellt haben.

Wir haben uns um ein Statement von Polizei und Generalstaatsanwaltschaft bemüht. Die Polizei twitterte zwar engagiert von dem Einsatz, wollte uns gegenüber aber keine Stellungnahme abgeben und verwies uns an die Generalstaatsanwaltschaft. Der liegen noch keine Akten vor, um sich äußern zu können, aber sie konnte mir telefonisch sagen, dass wegen Haus- und Landfriedensbruch ermittelt würde. Boris Niehaus wird jetzt erst mal als Verdächtiger geführt und weiß selber nicht warum. Er erfuhr erst durch mich von den laufenden Ermittlungen.

Ich habe den Deutschen Journalistenverband um ein Statement gebeten, weil dort Boris Niehaus akkreditiert ist. Der DJV-Pressesprecher Hendrik Zörner kommentierte gegenüber netzpolitik.org den Fall im Kontext der Pressefreiheit: „Wenn sich die betroffenen Journalistinnen und Journalisten mit dem bundeseinheitlichen Presseausweis legitimieren konnten, ist das ein schwerwiegender Eingriff in die Pressefreiheit. Die Berliner Polizei sollte sich mal bei der Innenministerkonferenz schlau machen: Die hat nämlich den Presseausweis anerkannt.“

Ich habe auch die Gewerkschaft dju/verdi angefragt. Das ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christoph Schmitz antwortete mir mit einer ersten Einschätzung: „Wir erleben immer wieder und leider auch immer häufiger, dass Journalistinnen und Journalisten, die solche Aktionen für die Öffentlichkeit begleiten, von der Polizei an ihrer Arbeit gehindert und sogar selbst zum Ziel polizeilicher Maßnahmen werden. Hier gibt es offenbar ein grundlegendes Unverständnis über die Rolle von Journalist*innen und die Reichweite der grundgesetzlich garantierten Pressefreiheit, für deren Durchsetzung die Polizei eigentlich verantwortlich ist“, sagt Schmitz.

Journalist:innen, die sich womöglich künftig in einer solchen Lage wiederfinden sollten, gibt der Gewerkschafter konkrete Tipps mit auf den Weg: „Grundsätzlich unterliegen Aufzeichnungen von Journalist*innen, darunter auch Foto- und Videoaufnahmen, gemäß §_97 Abs._1 Nr._2 StPO einem Beschlagnahmeverbot. Werden, wie in diesem Fall, Speichermedien beschlagnahmt, empfehlen wir, dieser Maßnahme ausdrücklich zu widersprechen, ein Beschlagnahmeprotokoll zu verlangen und die Polizist*innen aufzufordern, den Grund für die Maßnahme und die Rechtsgrundlage zu nennen. Dann sollte die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme ggf. gerichtlich geklärt werden.“

Boris Niehaus nimmt sich jetzt anwaltliche Hilfe und will gegen die Beschlagnahmung seiner Speichermedien und seine Festsetzung durch die Polizei vorgehen. Er will sich nicht einschüchtern lassen und sich dagegen wehren.

Jetzt ganz modern: Die Bundesregierung hat ein Dashboard für ihre Digitalstrategie

Jetzt zu etwas ganz anderem: Nun ist es endlich da, das Dashboard Digitalpolitik. Das was bitte?, werden sich jetzt viele wundern. Eine berechtigte Frage. Lange war es still geworden um das vor Jahren angekündigte Monitoring-Tool der Bundesregierung. Anzeigen soll es den Stand von mehr als 500 Umsetzungsschritten und leicht nachvollziehbar machen, wie es um die Digitalstrategie der Bundesregierung bestellt ist.

Tatsächlich zeigt nun eine Fülle an Grafiken den digitalen Fortschritt in Deutschland an, trotz gelegentlicher Fehler. Den größten Nachholbedarf hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt offenbar das Handlungsfeld „Gesellschaft“, wo viele Schritte noch im Status „in Planung“ oder „ausstehend“ stecken, ähnlich dem Feld „Moderner Staat“. Am Besten scheint es derzeit der „Infrastruktur“ zu gehen, wobei nicht ganz klar ist, ob das jetzt eine gute oder schlechte Nachricht ist.

Wer sich in Details vertiefen will, kann nach Themen und/oder Zielgruppen filtern. So lässt sich etwa erfahren, dass das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit Hilfe von Blockchain die Rückverfolgung von Lebensmitteln „bis auf das Feld oder in den Stall“ möglich machen will – irgendwann. Ok.

Tagesaktuelle und eher brennende Themen sucht man jedoch vergebens. Was etwa aus dem hart umkämpften Gesetzesvorschlag rund um das Recht auf Homeoffice geworden ist, lässt sich dem Dashboard nicht entnehmen. Es taucht dort gar nicht auf. Aber gut, vielleicht erwarte ich jetzt zu viel von diesem Tool. Deutsche Digitalisierungsmühlen mahlen nun mal langsam, an das habe ich mich (beinahe) gewöhnt.

Das in der großen Koalition umstrittene Vorhaben von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil, von den Unionsparteien argwöhnisch beäugt, stand auf der Tagesordnung des heute tagenden Digitalkabinetts – und hat dort eigentlich genauso viel zu suchen wie ein roher Entwurf eines Gesetzentwurfs im Dashboard. In diesem Rahmen besprechen die Bundesminister:innen den Digitalisierungsfortschritt in ihren Ressorts. Bis Redaktionsschluss sickerten jedoch keine Ergebnisse durch, weder zum Homeoffice-Gesetz, zur Umsetzung des Digitalpakts Schule oder zum Onlinezugangsgesetz.

Neues auf netzpolitik.org

Bei der nationalen Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform soll es jetzt doch Echtzeit-Uploadfilter geben. Das geht aus dem aktuellen Gesetzentwurf hervor, den wir veröffentlichen und den Arne Semsrott einordnet: Wir veröffentlichen den Entwurf für die deutsche Urheberrechtsreform.

Uploadfilter und ein schärferes Leistungsschutzrecht: Der aktuelle Entwurf für die Urheberrechtsreform zeigt, das der Druck der Presseverlage Erfolg hat.

In den USA kommt die Debatte um die Plattformregulierung voran. Tomas Rudl hat sich einen aktuellen Bericht eines Kongress-Ausschuss zu Tech-Monopolisten durchgelesen: Bis zur Zerschlagung.

Die vier großen Tech-Konzerne Google, Amazon, Facebook und Apple konnten in den vergangenen Jahrzehnten von einer weitgehend unregulierten Landschaft profitieren. Doch langsam dreht sich der Wind. Demokratische US-Abgeordnete fordern nun drastische Gesetzesänderungen, um Fairness in digitalen Märkten einziehen zu lassen.

Dazu passt auch dieser Artikel bei Protocol, der etwas Licht auf die Personen hinter dem Report wirft: A tiny team of House staffers could change the future of Big Tech. This is their story.

Wir haben einen umfangreichen Bericht von European Digital Rights zur Vorratsdatenspeicherung übersetzt und bei uns veröffentlicht: Die EU-Staaten müssen Vorratsdatenspeicherung endlich aufgeben.

Die anlasslose Speicherung von Kommunikationsdaten ist hoch umstritten und nicht mit EU-Recht vereinbar. Das hat gestern der Europäische Gerichtshof in einem wegweisenden Urteil nochmal bestätigt. Unser Gastbeitrag erklärt, welche Alternativen es gäbe und warum die EU-Staaten dennoch an der Datensammlung festhalten wollen.

Unser Redakteur Markus Reuter befindet sich gerade in Mexico und berichtet von dort über Social-Media-Inszenierung: Im Herzen der Instagram-Bestie.

Instagram ist zehn Jahre alt geworden. Es gibt wenige Orte auf der Welt, die den Einfluss des sozialen Netzwerks besser verdeutlichen als das mexikanische Tulum. Beobachtungen aus einem vermeintlichen Paradies.

Jana Ballweber hat sich Entwicklungen rund um digitale Gesundheitsanwendungen angeschaut: Krankenkassen können erstmals Kosten für zwei Gesundheitsapps erstatten.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat zwei digitale Anwendungen in die Liste der Gesundheitsapps aufgenommen, deren Kosten die gesetzlichen Krankenkassen erstatten. Wie der Nutzen solcher Apps nachgewiesen wird, bleibt ebenso schwammig wie die Datenschutz-Strategie.

Kurze Pausenmusik:

Dieser Newsletter wird, neben viel Herzblut, durch Spenden unserer Leser:innen ermöglicht. Hier kann man uns mit einem Dauerauftrag oder Spende unterstützen.

Wir freuen uns auch über etwas Werbung für den bits-Newsletter, um mehr Mitlesende zu bekommen. Hier geht es zur Anmeldung.

Feedback und sachdienliche Hinweise bitte an markus@netzpolitik.org schicken.

Die Erstellung dieser Ausgabe wurde freundlicherweise von Tomas Rudl unterstützt.

Was sonst noch passierte:

Das Recherche-Netzwerk Correctiv hat die vergangenen Monate untersucht, wie Instagram zur Mobilisierungsplattform für Rechtsextreme geworden ist: Kein Filter für Rechts – Wie die rechte Szene Instagram benutzt, um junge Menschen zu rekrutieren. Die Recherche erscheint in vier Teilen, wovon der erste heute online ging. Ich bin gespannt, wie Instagram reagieren wird, das laut Correctiv offensichtlich diese Mobilisierungsstrategien auf ihrer Plattform nicht auf dem Schirm hat.

===

70 Prozent der jungen Frauen zwischen 15 und 24 erleben im Internet Belästigung, Stalking oder eine andere Form der Diskriminierung. Das kann massive psychische Folgen haben. Der WDR beschreibt die Ergebnisse einer neuen Studie des Kinderhilfswerks Plan International: 70 Prozent der jungen Frauen online beleidigt oder belästigt.

===

In Berlin steigen die Corona-Fallzahlen und die selbstgeschaffene Corona-Ampel steht jetzt zweimal auf rot. Der Berliner Senat handelt jetzt und hat fürs Erste bis Ende des Monats eine Sperrstunde von 23-6 Uhr eingeführt. In der Zeit dürfen keine Bars, Restaurants und auch Spätis mehr geöffnet haben. Jetzt weiß ich zwar nicht, wo ich die kommenden Wochen nach 23 Uhr noch Schokolade kaufen kann. Aber letztendlich ist es ja für einen guten Zweck und ich finde die Maßnahmen gut begründet und der Situation angemessen.

===

Aus aktuellen Forschungsdaten des Copernicus-Klimawandeldienstes geht hervor, dass der vergangene Monat der Wärmste seit Ewigkeiten war: Weltweit wärmster September seit Jahrzehnten. Die durchschnittliche Temperatur im September lag 1,3 Grad Celsius über den Werten des vorindustriellen Zeitalters. Willkommen in der Klimakrise.

===

Der massive Corona-Ausbruch im Weißen Haus hat auch mit einer schlechten Strategie zu tun. Die New York Times berichtet, dass die einzige Sicherheitsmaßnahme Corona-Schnelltests waren, die dann doch nicht so zuverlässig funktionierten, wie man sich das so vorstellte: The White House Bet on Abbott’s Rapid Tests. It Didn’t Work Out.

===

In meiner Jugend hatte ich mal eine Phase, wo ich von Gitarrenmusik fasziniert war. Einige Alben von Van Halen gehörten auch dazu. Der Gitarrist Eddie Van Halen ist jetzt im Alter von 65 Jahren verstorben und bei Spiegel-Online gibt es einen Nachruf auf ihn und sein Werk: Grinsender Hedonismus mit hartem Haken. Mir war bisher nicht bewusst, dass er auch für die Gitarre in „Beat it“ von Michael Jackson verantwortlich war, wofür ihn damals der Produzent Quincy Jones ins Studio geholt hatte.

===

Einen schönen und kreativen Kampagnen-Clip aus dem US-Wahlkampf gibt es aus dem Umfeld der demokratischen Bündniskampagne The Last Week Ends auf Youtube zu sehen: Doom and Gloom.

Video des Tages: Hintergründe zu Konflikten in der arabischen Welt

Heute gibt es mal ein kleines Doku-Special zu Konflikten in der arabischen Welt. In der ZDF-Mediathek findet sich die Dokumentation „Krisenherd Iran – Gottesstaat zwischen Macht und Ohnmacht“.

Ebenfalls in der ZDF-Mediathek gibt es die vierteilige Dokumentation „Saudi-Arabien: Neue Freiheit. Öl, Tradition und Zukunft“.

Seit zehn Jahren gibt es Krieg in Syrien, der aktuell etwas aus dem globalen Blickwinkel gefallen ist. Die Arte-Dokumentation „Blackbox Syrien – Der schmutzige Krieg“ erklärt die regionalen und internationalen Ebenen des Konflikts.

===

Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

Diesen Newsletter kann man hier abonnieren.

Dieser Newsletter wird auch von vielen Spenden im Rahmen der freiwilligen Leser:innenfinanzierung von netzpolitik.org ermöglicht. Mit Deiner Unterstützung können wir noch viel mehr machen.